Ich liebe Rituale, Gebräuche, Traditionen und Feste jeglicher Art: Vor allem wenn sie mit Deko, Glitzer & Geschenken zu tun haben. Das Praktische ist, dass ich nicht getauft bin, darum kann ich auch alle religiösen Events wie Weihnachten und Chanukka problemlos feiern. Auch Ramadan würde ich sofort noch mitmachen, allerdings habe ich noch nie länger als einen Tag Fasten durchgehalten … darum lasse ich das aus.
Als mich nun am Nikolaustag meine Nachbarin Martha anruft, ob wir nicht spontan Nikolaus bei ihr feiern wollen, bin ich sofort Feuer & Flamme. Wenn auch noch Kostüme zum Fest dazu kommen ist kein Halten mehr. Nur Karaoke kann das noch toppen. Ein Nikolaus-Kostüm hatte sie beim Trödel ergattert, ihr Cousin Bernd sollte den Nikolaus mimen und den Knecht Ruprecht würde ihr Bruder Felix spielen.
Dann kommt ihre Mail: „Liebe Lucie, bitte maile mir doch noch Sams „Gute & Böse Taten“ für den Nikolaus.“
Mmh. Na klar, hat der kleine Terrorist einiges auf dem Kerbholz. Aber mal ehrlich: Würde ich gerne von einem fremden Mann mit wirrem Bart in einem muffigen roten Mantel hören, was ich an „Bösen Taten“ auf der Liste habe?
Dazu kommt noch: Sam findet Verkleidungen bei Erwachsenen so lala. Für die Osterparty in der Kita hatte sich der Musiklehrer in ein riesiges blaues Hasenkostüm gequetscht. Als dieser 1,80 Meter große blaue Hase ihm dann mit den starren Knopfaugen Schokoeier schenkte, wollte Sam nur noch weg. Ich kann das gut verstehen, ich hätte auch lieber von Chukky, der Mörderpuppe, Ostereier bekommen als von diesem Viech.
Danach fragte mich Sam zehn Tage fast stündlich: „Osterhasi komme nicht meine house, Mama, oder?“ Und nachts ist er weinend aufgewacht: „Osterhasi meine zimma.“
Das Nächste ist, dass Sam sich von jemanden, den er nicht kennt, grundsätzlich nichts sagen lässt. Wenn eine neue Praktikantin in der Kita ihn bittet, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, dann schaut er sie (wenn überhaupt) verächtlich an und geht weiter. Die muss sich erst mal beweisen und bis dahin darf sie Dreck fressen.
Zum Glück sehen die in der Kita das sehr entspannt: „Ist zwar bequemer, wenn die Kinder alles machen, was man ihnen sagt. Aber fürs Leben ist es besser, sie stellen erst einmal alles in Frage.“
Verkleidung plus Autorität, das wird schwierig. Aber auch ich kam mit der Liste nicht weiter. Es sträubte sich alles in mir. Wenn mir ein wildfremder Mann sagen würde, dass ich mal wieder alle Puzzleteile zerschnitten habe oder mit Mamas teurem Shiseido Lippenstift die Wände angemalt habe, dann würde ich doch ausrasten. Woher weiß der das? Laufen da Kameras? Wer verrät mich?
Bin ich hysterisch? Aber reicht es nicht, dass ich ihm viel öfter als mir lieb ist vorhalte, dass er nicht so funktioniert, wie es mir gerade passt? Zum Beispiel, wenn er nicht schlafen will, wenn ich will. Wenn wir dann schon zwei Stunden darüber debattieren, ob es jetzt Schlafenszeit ist oder nicht. Und wenn er dann noch anfängt mit „will banana esse“ oder „Hase musse pipi“, dann geht es rund.
Einmal ist mir sogar die Hand ausgerutscht. Nur ein bisschen. Ich glaube, ich habe mich mehr erschrocken als er. Vor allem darüber, dass ich mich allen Ernstes auf ein Machtspiel mit einem Dreijährigen eingelassen habe. Allein der Gedanke an den Abend treibt mir jetzt noch die Schamesröte ins Gesicht. Und nachdem ich mich entschuldigt habe, sagte Sam: „Geh, Mama.“ Da habe ich mich noch mehr geschämt.
Also, wenn ich ihn schon beim Nikolaus verpetze, dann müsste ich ja erst mal mich selber verpetzten. Aber das macht irgendwie ja auch keinen Sinn, dass ich mich vor 6 anderen Kleinkindern oute. Es sei denn Jesper Juul macht den Nikolaus, dann könnte er das Ganze noch in eine Therapiesitzung retten.
Ich rief also Martha an und sagte: „Wir kommen, aber ich habe nur gute Taten auf der Liste.“ Sie daraufhin: „Ach Lucie, mach dir nicht so einen Kopf. Der nimmt schon keinen Schaden. Aber meinetwegen, mach was du willst.“
Schlussendlich saßen wir in der großen Runde, Sam sprach den Nikolaus mit „Sanna Clos“ an und fragte, ob er „das letter komme hat“. Marthas Cousin Bernd (total katholisch) war pikiert und meinte: „Santa Claus gibt’s nur bei Coca- Cola. Ich bin der Nikolaus.“
Ich habe dann kurz versucht zu vermitteln und zu erklären, dass Sam einen Brief mit Wünschen an Santa Claus geschrieben hat. Aber es hörte niemand zu. Sam war nur enttäuscht, dass der Mann in dem roten verfilzten Ding ihm nicht die gewünschte rote Mütze gebracht hatte. Ansonsten endete das Ganze, wie bei jedem Kindergeburtstag, in Hysterie.
Die „Guten & Bösen Taten“ hat an dem Nachmittag keines der Kinder so richtig mitbekommen. Die waren zu beschäftig damit, Schokolade und Kekse zu essen und sich zu kloppen. Vielleicht sind Kinder viel widerstandsfähiger als ich vermute. Vielleicht mache ich mir wirklich zu viele Gedanken? Aber wenn nicht ich, wer dann?
Tags: Erziehung Jesper Juul Vorbild
0 Comment