Mein Sohn verschluckt sich an seinem Honigbrot und weint bitterlich, als er die Nachricht hört, dass sein Großvater gestorben. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er sich von jemandem verabschieden muss, der im nahesteht. Und es ist das erste Mal für mich als Mutter, meinen Sohn auf diesem Weg zu begleiten.
Wir weinen gemeinsam. Wir rufen die Oma an, meine Ex-Schwiegermutter. Wir realisieren den allerersten, ganz akuten Schock beim Telefonieren.
„Ich muss immer weinen“, sagt er später.
„Ja, mach das“, sage ich.
Und während ich das sage, realisiere ich mehr denn je, dass wir in einer Gesellschaft leben, die vergessen hat, dass der Tod ein Teil des Lebens ist. Eine Gesellschaft, die den Schmerz nicht aushalten kann. Die gar nicht mehr weiß, wie das geht.
„Ich sage alles ab“, beschließe ich nach dem ersten großen Schrecken.
Und mein Sohn fragt: „Warum?“
„Weil wir heute nichts anderes machen als an deinen Großvater zu denken.“
Er nickt.
In unserer Gesellschaft sind wir ständig in Bewegung, rennen von A nach B – wir können ruhig sagen, wir sind auf der Flucht. Das ist der Alltag. Wir setzen Prioritäten an Stellen, die uns Halt geben. An Fakten – das Meeting, die Mails, die Deadlines, die Steuer. Und als Weltmeister der Bürokratie haben wir uns ein großartiges Konstrukt gebaut. So können wir nämlich auch vor den unangenehmen, miesen, fiesen Gefühlen wegrennen. Vor Unbehagen und Schmerz.
Wir lenken uns ab. Rennen zum nächsten. Ohne Luft zu holen. Die Beschäftigung, der Stress, der uns zu adeln scheint, ist unserer Antrieb.
Wir sind im Außen beschäftigt, statt im Innen. Wir halten uns am Tun fest und nicht am Spüren.
Aber – der Schmerz gehört zum Leben. Es gehört dazu, ihn in seinem ganzen Ausmaß zu spüren. Ihn auszuhalten. Zuzulassen. Er gehört dazu – ohne Filter und Emojis. Er ist das, was uns formt. Neben den schönen Erlebnissen sind es diese Erfahrungen, die uns formen. Die uns empathisch machen für den Schmerz der anderen. Die uns die schönen Momente anders erleben lassen, weil wir um ihre Vergänglichkeit wissen. Die uns Mensch werden lassen mit allen Facetten, die zum Menschsein dazu gehören.
Mein Sohn tigert durchs Haus: „Mama, ich weiß nicht, wie ich mich ablenken soll. Es tut so weh.“
„Du musst dich nicht ablenken. Wir halten jetzt gemeinsam aus, dass es weh tut.“
Er sieht mich an und nickt.
Und dann sitzen wir.
Und sitzen.
Und weinen.
Und wechseln ab und zu ein Wort.
Und merken, dass wir ganz erschöpft und leer sind und essen 3 Teller Pasta mit extra viel Pesto und Pinienkernen.
Und weinen. Und haben keine Tränen mehr.
Und erzählen uns was.
Und irgendwann erzählen wir uns einen Witz. Und lachen. Weil sich der Witz über das Faultier, das einen Witz erzählt und dafür 10 Minuten braucht, in unmittelbarer Nähe zu der Tragödie befindet. Denn so ist das Leben. Voller Gegensätze und Widersprüche.
Und wir lachen über den Faultierwitz.
Und. Halten. Aus.
3 Comments
Wow… einer deiner stärksten Texte. Hat mich an vielen Stellen getroffen, berührt und zum mit weinen gebracht… danke ❤️ Großartige Worte gefunden.. feel you.
Danke Dir, liebe Nicole <3
Du bringst es auf den Punkt.
Meine Tochter bringt mich stets wieder auf das Fühlen des Inneren zurück.
Fühlt eich gedrückt.