„Die hat ihr Kind zum Vorstellungsgespräch mitgebracht!!!!“, schimpft meine Freundin Miri, die seit einem Jahr für ein deutsches Unternehmen in Stockholm arbeitet. Sie steht im Büro ihres schwedischen Chefs, der sie verdutzt anschaut. „Und wo ist das Problem? Die Malstifte sind vorne an der Rezeption.“ Miri ist völlig baff und braucht gefühlte acht Wochen, um das zu verdauen. Wenn ich an Schweden denke, dann fällt mir immer als erstes diese Geschichte ein.
Sind die Schweden tatsächlich ein familienfreundlicheres Land?
Ich habe die zwei Wochen Urlaub in Schweden genutzt, um der Frage mal etwas auf den Grund zu gehen. Ich habe keine Möglichkeit ausgelassen, um meine Studie zu vervollständigen und habe jeden befragt, der auch nur halbwegs nach Eltern aussah.
„Die haben Wickeltische in den Herrentoiletten“, sagt Marc. Wir sind gerade in Stockholm gelandet und Marc ist mit Sam gleich auf die Toilette gerannt. Ein erstes Zeichen für die vielbeschworene Familienfreundlichkeit? In Deutschland gibt es so etwas nicht. Außer bei IKEA.
Ein Abend ist für meine Studie besonders ergiebig. Wir sind auf einer Hochzeit eingeladen. Das Ereignis findet in einem kleinen romantischen Restaurant statt, das mitten in einer Gärtnerei liegt. Alle haben ihre Kinder dabei. Es ist alles zauberhaft dekoriert und es gibt massenhaft Möglichkeiten für Kinder richtig Blödsinn anzustellen. Marc und ich scannen die Umgebung und verkrampfen uns schon mal prophylaktisch.
Wir sitzen neben Ida und Tomas, die ihren knapp zweijährigen Victor dabei haben. Am Anfang benehmen sich Victor und Sam vorbildlich. Sam füttert Victor und die beiden kichern rum. Aber nach 30 Minuten wird es öde. Sam nimmt seinen Strohhalm und bläst damit den Birnensaft in Richtung Victor. Der findet das natürlich irrsinnig komisch und macht es ihm nach. Und während bei mir der Stresspegel direkt in den roten Bereich hochjagt und ich Sam zurechtweise, höre ich Ida und Tomas sagen: „Ja, das macht Spaß, was? Aber wie wäre es hiermit?“ und sie tauscht den Strohhalm gegen Malutensilien aus.
Mir ist meine Reaktion total peinlich. Was bin ich denn für eine verspannte Kuh? Klar, Birnensaft auf Abendkleid ist nicht optimal, aber es gibt ja Reinigungen und so ein Strohhalmwettkampf macht saumäßig viel Spaß. Ich nehme mir vor, mich jetzt mal zu entspannen, die Hochzeit zu genießen und bestelle mir noch ein Glas Wein.
Je später der Abend wird, desto aufgedrehter sind die Kinder. Sam rennt mit den anderen durch die Gärtnerei und nimmt dabei eine knapp zwei Meter hohe Palme im großen Tontopf mit. Ein Gast fängt sie auf und stellt sie wieder hin: „Du bist aber schnell!“, ruft er Sam lachend hinterher. Ich sehe, dass Marc sich Sam schnappen will, nachdem er sich bei dem Gast entschuldigt hat. Der winkt ab: „Es sind Kinder!“ Ich glaube, ich sollte Marc auch ein Glas Wein bestellen.
Ich unterhalte mich mit Ida und Tomas. Ich will noch mehr für meine Studie zusammentragen. Victor ist mit 15 Monaten in die Kita gekommen. Ida ist nicht besonders zufrieden mit dem Betreuungsschlüssel (3 Erzieher auf 13 Kinder, hallo!!!), aber sie stellt es nicht in Frage, dass Victor so jung schon den ganzen Tag in der Kita verbringt. Sie hat Victor die ersten 12 Monate betreut, dann hat Tomas für 3 Monate übernommen. „Das machen die meisten so“, erzählt sie.
Aber je länger wir uns unterhalten, desto mehr stellt sich heraus, dass auch sie dieselben Sorgen haben: die Angst, als Eltern nicht zu genügen, das Generve mit den Betreuungsabsprachen, und die schlaflosen Nächte. Aber das Alles findet auf einem anderen „Verspannungspegel“ statt. Sie scheinen einfach grundentspannter und vor allem schaffen sie eine Sache wesentlich besser: Sie integrieren die Kindern einfach viel selbstverständlicher in ihren Alltag.
Während wir die Kinder auf der einen Seite, den Beruf auf der anderen Seite und dazwischen einen tiefen Graben haben, scheinen das die Schweden besser vereinen zu können. Da radelt der Chefarzt tatsächlich um 17 Uhr nach Hause und es ist keineswegs eine Ausnahme sondern der Alltag. Da werden die Sorgen, die Schulden, die Freude, der Job und die Kinder zusammen gelebt und nicht getrennt. Die Schweden haben auch ihre Genderkämpfe, aber das Verständnis fürs Gemeinwohl ist einfach ganz anders ausgeprägt.
Ich frage mich, wie uns Deutschen das besser gelingen könnte. Anscheinend müssen wir nicht nur die Kita – Situation dringend ändern, sondern vor allem in unseren Köpfen so einiges ändern. Die Coolness der meisten Schweden erreichen wir wahrscheinlich nur nach einem gemeinsamen Joint. Mmmhh. Das wäre vielleicht mal eine Alternative: Ein Massen-Sit-in. Auf jeden Fall würden man dann nicht mehr behaupten können, wir Deutschen seien zu verkopft. Was meint ihr?
Tags: Erziehung Perfektionimus
4 Comments
Diese Entspanntheit klingt herrlich, nicht nur im Bezug auf Kinder! Ich finde, das sollten wir alle sowieso endlich mal lernen! Mehr Entspannung, mehr Leichtigkeit und ein bisschen weniger Kopf 😉
xo Zoe
Liebe Zoe,
Du hast ja so recht!! Um eine Leserin zu zitieren: „Ihr Deutschen seid so leistungsorientiert! Optimiert doch nicht immer alles.“
Ja, verflucht! Lets relax!!
Schönen Tag
Deine Lucie
[…] entspannter im Umgang mit Kindern? Diese interessante Frage stellt Lucie, 40, aus Berlin-Mitte, im gleichnamigen Blogbeitrag ihres kurzweiligen Blogs “luciemarshall – How my Boobs became food”. Entdeckt […]
>> „Die hat ihr Kind zum Vorstellungsgespräch mitgebracht!!!!“ << schon kurios warum das in anderen Ländern klappt und bei uns in D so ungewöhnlich ist. Irgendwie scheint mir die Deutsche Chefetage ziemlich verstaubt oder liegt es evtl. an den Frauen selber? Muss eine Frau heute den Beruf & die Familie trennen um den Chef klar zu machen "Hey! Ich bin nicht nur Mama, ich kann auch mehr!"?? Ich selber sitze ja tagtäglich mit Baby im Büro und habe irgendwie manchmal das Gefühl man wird doch mehr als Status "Mutter" wahrgenommen. Also zumindest bis es im monatlichen Meeting an die Zahlen geht …that´s life 😀 LG Franzi (Baby at Work)