Liebe Mama mit dem brüllenden Kind,
eigentlich wollte ich dir noch was sagen, bevor du ausgestiegen bist. Aber als der Zug hielt, hattest du genug mit den Kindern zu tun und musstest dich erstmal mit deinem Gepäck sortieren.
Du hattest zunächst allein neben mir im Abteil gesessen, bis eine Freundin von dir aus dem oberen Teil des Doppeldeckerregionalzuges kam und dir deine kleine, brüllende Tochter in den Arm drückte. Ihr Geschrei machte es fast unmöglich, irgendetwas zu verstehen, aber nach mehreren Anläufen wurde uns anderen klar, dass deine Tochter eine geliehene Puppe partout nicht an ihre Freundin zurückgeben wollte. Diese Art des Trennungsschmerzes von Dingen, die einem nicht gehören, die man aber wieder zurückgeben muss, haben im Alter von 4 Jahren eine ganz besondere Intensität. Die sich dann eventuell auch in einer Lautstärke äußern kann, die dem Festival „Rock am Ring“ sehr nahe kommt.
Nerven wie Stahlseile oder gibt es eine Steigerung?
Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was mich in dem Moment mehr beeindruckte: Die unfassbare Kraft deiner Tochter, die einer Naturgewalt glich oder deine Ruhe, die ich auch nach 23 Jahren Meditation nicht aufgebracht hätte. Denn während ich schon langsam ob der Frequenz Schweißperlen auf meiner Stirn spürte, bist du seelenruhig geblieben und hast mantramäßig wiederholt: „Nein, das ist die Puppe von Lotta. Das ist nicht deine, mein Schatz. Die Lotta möchte sie jetzt gerne zurückhaben.“
Gut, jede Mutter kennt solche Situationen, in denen jegliche Logik bei Kleinkindern Perlen vor die Säue ist. Aber in einem vollen Regionalexpress die Nerven zu behalten, der mit Fahrrädern vollgestellt ist und in dem sich Hundeleinen in Kinderwagenreifen verknoten, das ist meiner Meinung nach absolute Königsklasse.
Es wurden alle Klischees erfüllt.
Die meisten anderen um dich herum ignorierten die Situation oder hielten sich dezent die Ohren zu. Allerdings hätte man das ältere Ehepaar nicht besser casten können, das aufstand und dir nicht nur einen verächtlichen Blick zuwarf, sondern tatsächlich alle Klischees erfüllte und sagte: „Diese Kinder von heute!“
Und du?
Du hast gelächelt wie Mona Lisa und Mutter Theresa gleichzeitig.
Und ich?
Ich konnte mir ein zickiges „Sie waren auch mal klein“, nicht verkneifen. Nächstes Mal versuche ich mich auch mit diesem Lächeln. Ich übe noch.
Deine Tochter interessierten alle Schaulustigen überhaupt nicht. Sie bog ihren kleinen Körper in alle Richtungen und trotze mit einer Kraft – ich weiß ich wiederhole mich –aber diese Kraft! Mein einziger Gedanke war: „Um die muss man sich keine Sorgen machen.“ Alter Schwede!
Kannst du mir was davon abgeben?
Was auch immer sie in ihrem Leben unternehmen wird, die wird sich durchsetzen können. Und dass sie in der Lage sein wird, das zu tun, hat sie DIR zu verdanken. Denn es ist viel schwieriger, als Mutter diese Kraft auszuhalten und sie nur sanft zu steuern, als sie zu stutzen. Es bedarf guter Nerven, großer Ausdauer und einer eigenen Standhaftigkeit, seinen Kindern so viel Raum zu geben. Ich sah euch zu und wusste nicht ganz, von wem ich in diesem Augenblick mehr lernen sollte – von dir und deinem großherzigen, aber kompromisslosen und klaren Rückgrat oder von deiner Tochter und ihrer Kraft.
Nach 15 Minuten, die sich eher wie 15 Tage anfühlten, hielt der Zug und wir stiegen aus. Deine Tochter hatte nicht aufgegeben. Sie hatte, glaube ich, nur vergessen, warum sie eigentlich so gebrüllt hatte und saß jetzt mit sturem Blick in ihrem Kinderwagen.
Und du?
Du sahst aus als hättest du einen lauen, entspannten Sommerabend mit Freunden verbracht, wie du mit Sack und Pack und Freundin und Koffern und Kindern zur Rolltreppe gegangen bist.
Ich habe dir leider nicht hinterhergerufen, dass ich dein größter Fan bin, Ich wollte dich nicht stören. Weil du wirklich anderes zu tun hattest, als sich auch noch um ein Groupie zu kümmern. Aber falls du das hier lesen solltest: Du bist der Hammer! Und eine wirkliche Inspiration.
Ich wünsche mir diese Gelassenheit für die nächste Dekade. Die terrible twos meines Sohnes sind passé. Aber ich bekomme die ersten Einblicke in die Gemütsschwankungen der Teenies. Wenn alles Scheiße ist und man nicht weiß wohin mit sich. Ich wünsche mir für diese Phase deine Gelassenheit. Und wenn ich es mal vergessen sollte, dann lese ich einfach nochmal diesen Beitrag …
3 Comments
Ach liebe Tanya,
eine schöne Geschichte die uns doch zeigt wie wir selbst in, gemeinhin als stressig bezeichneten , Situationen lernen können. Lernen von anderen, unbekannten Menschen. Eine solche Situation mit der nötigen Ruhe zu betrachten und die Sichtweise zu ändern und Gutes daraus zu schöpfen. Etwas positives mit nach Hause zu nehmen, sich selbst zu reflektieren um dann zu überlegen was man sich von sich selbst noch wünschte. Ich hoffe die Mutter wird von Deinen Zeilen erreicht. Mich jedenfalls machen sie nochmal stärker in der Verzweiflung eines 3 1/2 jährigen Enkels. Den den für uns scheinbar banale Dinge vollkommen aus der Fassung bringen . Die er mit einer Kraft verteidigt die ich oft gerne im Alltag hätte.
Danke dafür!
Herzlichen Gruß
Rita
Ich bin beeindruckt von dem, was Du schreibst, aber mindestens ebenso davon, wie Du es schreibst. Das zu Lesen ging mit durch und durch… danke dafür! Viele Grüße, Bele
Liebe Bele, Danke Dir! <3