„I see you!“, sagt Toni Morrison.
Und ich nehme die falsche Ausfahrt, so sehr haut mich dieser kleine, einfache Satz um.
Es ist früh am Morgen. Ich bin am Tag zuvor 5 Stunden Zug gefahren und habe dementsprechend sehr wenig Lust, mit der Aussicht ins Auto zu steigen, mindestens 4 Stunden darin zu verbringen. Aber was soll‘s, ich wollte meinem Sohn 10 Stunden Zugfahrt ersparen und hole ihn deshalb von den einen Großeltern ab, um ihn zu den anderefahren.
Ich suche lustlos nach einem Podcast für die Fahrt und lande zufällig bei Oprah Winfreys „Super Soul Coversations“. Ich wähle irgendeine Folge. Ich glaube, weil ich den Namen der Autorin Toni Morrison in der Beschreibung gelesen habe und ich sie mag. Oprah hat in ihrem Podcast entweder Gäste, mit denen sie sich unterhält, oder sie sendet Zusammenschnitte aus ihren Talkshows und Interviews.
Die Straße windet sich in Serpentinen durch das Gebirge. Keine Menschenseele. Ich fange an, den Moment zu genießen – ich, allein, Oprahs warme Stimme und eine langsam erwachende Welt.
Ein kleiner Satz mit viel Gehalt
„We are all looking for validation”, beginnt Oprah. Oh ja, denke ich, das stimmt – wir brauchen alle Bestätigung. Es können kleine Blicke sein oder eine Urkunde für besondere Leistungen. In allen Bereichen – in der Liebe, in der Freundschaft, im Alltag, im Beruf.
„Jedes Mal, wenn sie den Raum betreten, vergewissern sich Kinder zuerst, was ihnen das Gesicht ihrer Mutter erzählt“, sagt Autorin Toni Morrison. Und sie erinnert sich, wie sie bei sich selbst feststellte, dass sie ihre Kinder meistens sehr kritisch ansah: Hatten sie Socken an? Gekämmte Haare? Nutella am Mund?
Und was für sie ein „liebevolles Checken“ war, wirkte auf ihre Kinder wie Kritik und Kontrolle.
“Let your face speak what‘s in your heart“, war ihre Schlussfolgerung, und von da an versuchte sie, dass sich ihr Herz auf ihrem Gesicht widerspiegelte. Damit ihre Kinder ihre Freude sehen konnten, wenn sie den Raum betraten. Die Freude darüber, dass es sie gibt.
Kinder erkennen ihren Wert nicht durch die Worte, die wir ihnen sagen – sie erspüren ihn. Anhand von Blicken, kleinen Gesten. Kinder können instinktiv die Temperatur im Raum messen. Bin ich willkommen? Freuen sich meine Eltern? Oder störe ich eigentlich immer. Das alles passiert in Sekundenschnelle– ganz ohne Worte.
Verdammte Hacke
Ich fühle mich ertappt. Und zum Glück sitze ich allein im Auto, so dass niemand sah, wie rot ich werde und hinter meinem Steuer immer tiefer in den Sitz sinke.
Ich bin selten mit etwas wirklich zufrieden. Ich denke immer, dass es noch besser sein könnte. Nicht nur bei mir. Bei allen in meinem Umfeld. Und natürlich auch bei meinem Sohn. Ich sehe das Potential und will unbedingt, dass es umgesetzt wird. Ich weiß, dass das anmaßend ist. Ich habe ja schlaue Bücher gelesen. Ich weiß, dass jeder sein Tempo hat und jeder seine Aufgabe im Leben. Und das Potentiale zu haben nicht automatisch bedeutet, sie auch leben zu müssen, zu können, zu sollen. Vielleicht ist das Potential, das ich sehe, gar der Wunsch der betreffenden Person.
Aber die Theorie in die Praxis umzusetzen, ist ja so eine Sache.
Mit Blick auf die letzten Monate, die ich im Homeoffice mit Homeschooling und Home-Nervenzusammenbruch verbracht hatte, fiel mir ein Satz ein, den ich gefühlt 25 Mal am Tag gesagt habe: „Jetzt nicht, ich muss erst…“ Ja, es war eine Ausnahmesituation. Aber Corona hat uns ja in so vielen Bereichen die Lupe zücken lassen und auf das Essentielle aufmerksam gemacht.
Natürlich habe ich immer Zeit, einen Moment innezuhalten, wenn mein Sohn den Raum betritt, um ihm zu zeigen, dass ich mich freue. Es gibt nicht wirklich einen Grund, dies nicht zu tun – kein Telefonat, keine Mail, keine Ermüdung, nichts. Die 30 Sekunden, die ich dafür benötige, sind immer drin.
Kleiner Schritt und große Wirkung
Ich parke mein Auto wie nach einer Erleuchtung. Steige aus und denke: „Das wird jetzt eine interessante Übung. Mal sehen, was das in Gang setzt.“ Und dann gehe ich ganz bewusst auf ihn zu – mit den Worten im Herzen und auf dem Gesicht: „I see you.“
Die Rückfahrt ist wahrscheinlich einer der schönsten überhaupt. „I see you“, macht Türen auf, lässt Gespräche zu, lässt mich anders zuhören und meinen Sohn anders erzählen. Ich sitze am Steuer und könnte heulen über so eine einfache kleine Erkenntnis.
Ich übe das jetzt, nehme ich mir vor. Ich gehe jetzt mal bewusst mit diesem Satz durchs Leben. „I see you.“ Nicht nur meinem Sohn gegenüber. Auch meinem Partner, meinen Freunden, meinen Kollegen und wildfremden Menschen auf der Straße gegenüber. I see you.
Wer macht mit?
P.S. Für alle, die die ganze, wirklich sehr hörenswerte Folge selbst hören wollen – hier entlang.
Photo by „My Life Through A Lens“ on Unsplash
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