Am Wochenende hatte ich 2 Konzepte von Kinder-Erziehung vor mir, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Sam war zum Spielen eingeladen und natürlich war noch nicht ausreichend gespielt worden, als ich ihn abholte. Also saß ich noch eine Weile auf der Couch und unterhielt mich mit der Mutter des Spielgastgebers. Ich sah, wie sie öfter auf die Uhr schaute und etwas unruhig wurde.
„Ich packe jetzt mal mein Kind ein“, sagte ich und sie erwiderte ganz erleichtert: „Ja, bei uns geht um Punkt 19 Uhr das Abendprogramm los.“
„Das ist auch immer mein Ziel“, erwiderte ich lachend, „wird aber meistens verfehlt.“
Sie lachte sehr halbherzig mit: „So etwas wird bei uns nicht diskutiert. Und da gibt es auch keine Ausnahmen. Um 20 Uhr ist das Licht aus. Punkt.“
Ich dachte zuerst, sie macht einen Witz, aber sie blieb ganz ernst. Ich packte Sam einen Ticken schneller ein, um nicht die erste Ausnahme zu sein, und war hin und hergerissen zwischen Neid und Unverständnis.
Am nächsten Tag war ich in einem dieser wunderschönen Klimbim-Läden, in denen man von Schmuck bis Wohnungsdeko alles bekommen kann und am liebsten gleich einziehen möchte. Eine Mutter lief mit ihrem etwa fünfjährigen Kind durch den Laden. Der Kleine griff einmal ins Regal und griff nach einer Schmuckschatulle und was er sonst noch so zu fassen bekam. „Das tut mir leid“, sagte die Mutter und die Verkäuferin erwiderte: „Ist schon okay.“
„Ich meinte nicht Sie“, antwortete die Mutter, „ich meinte mein Kind. Ich finde Kinder sollten alles dürfen.“ Ich weiß nicht, wer verdatterter schaute, die Verkäuferin oder ich.
Auf dem Nachhauseweg ging mir folgendes durch den Kopf: Beide Erziehungskonzepte sind nicht Meins . Ich mag Regeln UND ich mag Ausnahmen. Ich finde, manchmal muss man streng sein und was durchziehen UND dann gibt es Zeiten, in denen alle Fünfe gerade sein lassen genau das Mittel der Wahl ist. Ich finde es gibt Tage der Süßigkeitenvöllerei UND Süßigkeitenfreie Zeiten. Ich finde, Sam darf mal einen Fernsehnachmittag haben UND auch mal 3 Tage gar nichts sehen, spielen, sich langweilen, anderen Input suchen.
Und genau das sehe ich auch für mich: Ich darf Ordnungs-Fetischist sein UND trotzdem Wäscheberge im Schlafzimmer sammeln. Ich darf Mutter sein UND es trotzdem auch mal krachen lassen. Ich darf Yoga lieben UND mich über Yogis lustig machen. Ich darf Nagellack horten UND Bio kaufen. Ich darf meinen Sohn abgöttisch lieben UND er darf mir höllisch auf den Keks gehen.
Und während ich das so alles durchspielte, stellte ich begeistert fest: UND ist mein neues Lieblingswort.
11 Comments
Das ist toll, Lucie. Genau das ist des Rätsels Lösung: Mehr Spuielraum, mehr UND, mehr Freude.
Vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast.
Schöne Woche euch allen
Carlotta
Gerne! Ich hoffe ich vergesse es selber nicht zu schnell wieder….
Genauso wie bei Euch und nicht anders und dann haben alle was davon und freuen sich und sind glücklich und zufrieden. Ja und ist toll und viel einsetzbar.
Das stimmt! Es haben alle was davon!
Danke
<3
Ich erkenne mich voll und ganz darin wieder und bin da ganz bei Dir! UND ist toll! 💞
YES! YES! YES!
Im ersten Fall ist ja noch ein Erziehungskonzept erkennbar (nicht das meine, ich neigte immer zum Und), im Laden sehe ich aber gar keines und ich hätte wohl meinen Mund nicht halten können. Zwar mag ich auch keine oberlehrerhaften Attituden, aber haben wir nicht auch Verantwortung? Mitunter braucht es eben „ein ganzes Dorf“ zur Erziehung eines gesellschaftskompatiblen Menschen.
Und wichtig dabei: der Ton macht die Musik!
Ja, das 2.“Konzept“ ist mir auch nicht ganz klar… „Herangehensweise“ ist vermutlich besser. Ja, Du hast recht mit der Verantwortung. Manchmal ist man allerdings so baff, das einem nichts einfällt… oder erst auf dem Nachhauseweg… geht mir auf jeden Fall manchmal so.
herzlich Lucie
Also… ich meine ja, nur wenn man liebt, darf man sich auch mal drüber lustig machen – wenn nämlich keine Liebe dabei ist, wird es ätzend…
Und: Prinzipien sind ja gut und schön. Aber ich meine, sie sollen sein wie die Balken eines Fachwerkhauses: sie sollen die Stütze geben, aber nicht das Licht wegnehmen. An welchen Stellen man die Konstruktion dann (notwendigerweise…) winddicht macht, wo man Türen läßt und Fenster, das muß man zwar auch ein bißchen voraussehen – aber es müssen welche da sein, die man je nach Bedarf öffnen und schließen kann. Ein Haus ohne Türen ist ein Gefängnis. Oder eine Zisterne, aber wenn man drin sitzt, kommt das aufs Gleiche heraus.