Wir sitzen im Auto und haben gerade Sams Freund nach Hause gebracht. Wir sind beide etwas alle. Sam lässt sich den Fahrtwind um die Nase wehen und döst. Ich versuche, beim Autofahren nicht einzuschlafen.
„Mama, du hast doch mal gesagt, dass wenn man Arzt ist, dann muss man alles tun, um den Menschen zu helfen“, fängt er an.
„Mmh“, sage ich. „Ja, man schwört einen Eid, dass man sein Möglichstes tut.“
Die Ampel schaltet auf rot. Ich halte.
„Aber Mama“, fährt er fort, „was ist, wenn der Kranke ein Herz braucht. Muss der Arzt dann auch sein Herz geben? Weil, er muss ja alles machen.“
Ich drehe mich zu ihm um und er sieht mich prüfend an: „Mama, weil, man muss doch alles machen was man kann.“
Puh, denke ich, das wird keine easy-peasy-18.30 Uhr- Abendplauderei.
„Ja, man muss alles tun, was man kann, aber ohne sich selbst zu opfern. Wenn der Arzt dem Patienten sein Herz gibt, dann lebt er selber nicht mehr und dann kann er auch nicht mehr helfen.“
Er schaut wieder aus dem Fenster. „Aber, Mama, was ist denn wenn der Kranke dann stirbt? Und der Arzt hat nicht alles gemacht?“
Mein Hirn versucht verzweifelt, die Müdigkeit abzuschütteln und auf tiefenphilosophische Gespräche zu schalten.
„Sam, das ist eine ganz, ganz schwierige Frage“, fange ich an, „es gibt Momente da kann auch ein Arzt nichts mehr tun. Und wenn er sein Herz geben würde – dann muss man sich ja auch fragen, wessen Leben mehr wert ist? Denn der Arzt stirbt dann ja auch.“
Ein Lastwagen donnert an uns vorbei, aber das Rattern von Sams Gehirn ist lauter.
„Aber Mama, und was ist wenn ein Kind ein Herz braucht?“, hakt er nach, „ ein Kind lebt doch länger als ein Erwachsener.“ Seine Augen füllen sich mit Tränen.
Wie soll man darauf antworten? Wie kann man den Wert eines Lebens messen? Ich wünschte, es gäbe eine einfache Antwort auf den Wert eines Lebens. In Kilo oder Metern oder Joule. Irgendetwas Mathematisches, das ich im jetzt mitgeben könnte. Und auch mir selbst.
„Sam“, fange ich an, „manche Dinge liegen nicht in unserer Hand. Und auch nicht in der Macht eines Arztes. Das ist ganz furchtbar. Und manchmal stirbt dann auch ein Kind, weil man nichts mehr tun kann.“
Er schluckt. Ich muss ihm irgendwie ein Stück Hoffnung an die Hand geben.
„Weißt du, wenn man gesund ist und lebt, dann kann man sein Herz nicht an jemanden geben. Also, nur Organe die man zum Beispiel doppelt hat. Wie eine Niere. Aber wenn man zum Beispiel einen Unfall hatte und man überlebt den nicht, dann kann seine Organe an jemanden geben, der sie braucht. Das nennt man dann Organspende.“
Er sieht mich mit großen Augen an und hat eindeutig einen Silberstreifen am Horizont erkannt: „Was ist Organspende? Sagst du mir das jetzt genau?“
Ich erkläre es.
„Mama, hast du einen Organspendeausweis?“, fragt er. Verflucht. Nein. Das ist ein Punkt auf meiner To-Do Liste, den ich seit Jahren immer wieder erneuere.
„Nein“, gestehe ich, „aber es ist etwas, das ich mir dringend besorgen muss.“
„Mama, ich will auch einen“, sagt er ganz ernst. „wenn ich einen Unfall habe, dann kann vielleicht ein anderes Kind mit meinem Herz weiterleben.“
Ich starre nach vorne und versuche, nicht laut los zu schluchzen. Wir fahren stumm und beide in unseren Gedanken vertieft nach Hause. Aber die Frage, wie viel sind wir bereit sind für einander zu tun, begleitet mich die ganze Nacht.
4 Comments
Uff… ich fühle nachträglich mit dir.
Danke! <3
Hab grad Tränen in den Augen. Du hast echt nen goldjungen!
Jaaaa… ich weiß….Danke.