Ich fahre vorbei an gut gefüllten Restaurants. Auf der Straße vor den Bars tummeln sich gutgelaunte Gruppen. Mich irritiert das. Seit 10 Wochen bleiben wir zuhause – mit Home Office, Home Schooling, Home everything. Bis zu den Sommerfreien wird mein Sohn zweimal die Woche für jeweils 3 Stunden in die Schule gehen. Ansonsten läuft alles so weiter wie bisher. Also, wenig Besserung in Sicht.
Ich gönne den Restaurantbesitzern von Herzen, dass sie wieder Umsatz machen. Ich weiß, wieviel Existenzen durch Corona auf dem Spiel standen, wieviel Familien vor einem Scherbenhaufen stehen. Und doch fühlt es sich falsch an. Wie ein Negieren der Situation. Wie ein „Pandemie?“ – warte mal, das war doch dieser verrückte Film mit … mit wem nochmal? Wie ein zwanghaftes Zurück zum „Normalen“, was auch immer normal war oder als normal galt.
Die Banalität als Anker
Ich fühle mich an meine Freundin Laury erinnert, die am 11.September, 2 Stunden nach den Anschlägen unbedingt zu ihrem Friseurtermin wollte. Wir wohnten damals alle im East Village, der Friseur war oben am Central Park. Und weil die Subways natürlich alle gesperrt waren, lief sie die knapp 6 km zu Fuß. Einfach, um an der Normalität festzuhalten. Wenn die Welt aus den Fugen gerät, sind Banalitäten das, was uns Halt gibt. Ich habe damals Kürbissuppe gekocht. Stundenlang. Keine Ahnung für wen.
Dass unsere Politik zuerst Pläne für die Wiedereröffnung von Fußballspielen und Autohäuser gemacht hat, spricht Bände. Oder wie Janina Kugel, Ex-Personalchefin von Siemens, so schön im Podcast der Zeit fragt: „Wo liegen eigentlich die gesellschaftlichen Prioritäten?“
Ich hatte gehofft, dass Corona ein grundsätzliches Umdenken bewirken würde. Dass die Politik die Chance ergreift, mutig und visionär neue Wege zu gehen, Verkrustetes aufzubrechen und lang Überfälliges anzugehen. Stattdessen sind wir zurück gefallen in alte Muster. Und ich hoffe, dass die Soziologin Jutta Allmendinger mit ihrer Aussage unrecht behält, dass wir durch Corona beim Thema Gleichberechtigung eine Rolle rückwärts um 3 Jahrzehnte gemacht haben.
Ich halte mich als Zwangsoptimist lieber an die Trendforscherin Li Edelkoort, die voraussagt, dass wir größere Achtsamkeit lernen werden, dass wir gezwungen werden, alle die Systeme zu überdenken, die wir seit unserer Geburt kennen. Ich weiß, dass beides stimmt… aber Ersteres macht mir einfach so unglaublich schlechte Laune, dass ich mich lieber auf Letzteres fokussiere.
Ein altes Kleid im Schrank
Ich will nicht zurück zum Alten. Das ‚Alte‘ hängt wie ein Kleid aus vergangenen Tagen bei mir im Schrank, und ich denke: „Nee, passt nicht mehr.“ Da bin ich rausgewachsen. Denn bei aller kompletten Überforderungen der letzten Wochen, haben sie mir eines gezeigt: Anders geht es auch. Vielleicht leider nicht im großen Stil, wie es möglich wäre, wenn wir eine visionäre Politik hätten – wie in Neuseeland oder Kanada, aber ich werde mir mein kleines Universum so erschaffen, wie es möglich ist. Und wie es in meiner Macht steht.

Sportunterricht
Ich mach’s dann mal anders
Letzte Woche waren wir an der Ostsee mit Freunden. An unserem Lieblingsort. Wir haben von dort aus gearbeitet. Ich habe von dort aus Homeschooling gemacht. Den Rest des Tages haben wir mit Sand unter den Füßen am Strand verbracht. Wir haben Stand Up Paddling gelernt und die Kinder haben irgendwelche selbsterfundenen Spiele gespielt, für die wir Erwachsenen zu doof sind, um sie zu verstehen. Das hat uns allen enorm gut getan. Und auch die Frage auf den Tisch gebracht: „Warum eigentlich jemals zurück in dieses rigide Schulsystem? Warum eigentlich wieder zurück in einen Alltag, der mir die Luft nimmt und meinem Sohn die Fingernägel kostet? Denn trotz der großen Herausforderungen und dem Stress – ich komme beim Schneiden der Fingernägel meines Sohnes kaum hinterher. Seit er in der Schule ist, waren die so abgekaut, dass man sie kaum noch sah.
Wenn ich ihn frage, was er vermisst, dann sagt er: „Nicht viel. Ein paar Freunde und das Fußballtraining.“ Wenn ich mich frage, was ich vermisse: „Nicht viel. Freunde, morgens im Café sitzen und verreisen.“
Was soll sein?
Werde ich mir jemals wieder von der Schule etwas vorschreiben lassen? „Sie können ihr Kind nicht für 2 Tage beurlauben, es herrscht Schulpflicht in Deutschland!“
Nein.
Denn sie haben mich monatelang hängen lassen. Und ich habe mir selbst beigebracht, wie Unterricht aussehen soll. Auch wenn es nervt, es geht. Wobei das Unterrichten nervt gar nicht so. Es nervt nur die Gleichzeitigkeit mit dem nächsten Zoom Meeting, die nicht vorhandene Wertschätzung, was wir Familien alles bewältigen. Aber sonst?
Meinen räumlichen, beruflichen Freiraum hatte ich mir schon vor Corona ermöglicht. Und doch war da immer eine preußische Stimme in mir, die meine Präsenz einforderte. Die ist jetzt verstummt. Denn wir haben wochenlang Zoom Meetings unter Hochdruck durchgestanden. Was soll denn da noch kommen?
Mein kleines Universum
Dass das meine individuelle Realität ist, ist mir völlig klar. Eine meiner Freundinnen hat ein Kind in der 7. Klasse und ist Heilpraktikerin. Sie kann ihren Beruf nicht so mobil ausüben wie ich und ihre Tochter ist im Probehalbjahr fürs Gymnasium. Eine vollkommen andere Realität. Ganz andere Möglichkeiten. Und sie wäre die Erste die umdenken würde. Aber wohin mit dem Schuldruck, der nicht aufgefangen wird, sondern unkommentiert bei ihr abgeliefert wurde? Ab nächster Woche hat ihr Kind einen Tag Unterricht, 2 Stunden – Kunst und Geschichte. Ich glaube, wir alle können unzählige Geschichten dieser Art erzählen. Und wenn ich an Familien denke, die noch eine ganz andere Art der Unterstützung brauchen, Familien, die keinen Drucker zuhause haben, dann werde ich ganz still und demütig.

Schulbank mit Meerblick
New ways, need new shoes
Die Welt hat sich verkleinert und vergrößert. Ich mache meinen Sport online mit dem New Yorker Portal „The Class“ und fühle mich meiner alten Heimat so verbunden wie lange nicht mehr. Gleichzeitig hat sich mein Kreis verkleinert – einerseits zwangsweise wegen der Kontaktsperre, aber auch weil ich mich mit denen umgeben habe, die nicht austauschbar sind. Die ich nicht missen möchte, die ich auch in der krassesten Zeitnot hören will und mit ihnen verbunden sein möchte.
Ich habe keine Ahnung, was kommt. Wie mein Alltag aussehen wird. Ich merke aber, wie mein Kopf belebt wird, wie ich seit langem wieder meine Kreativität spüre. Ich sehe einen Weg vor mir, der hell ist und viel Neues bringt. Das Ziel ist nicht klar. Aber das bringt einen ja vielleicht zurück zu der Frage aller Fragen: Ist das Ziel der Weg oder der Weg das Ziel? War das Huhn zuerst da oder das Ei?
Was denkt ihr? Wo steht ihr?
11 Comments
Ich wünschte es wäre so hell um mich herum… Momentan wäre es schön wenn wieder etwas alter Alltag einziehen würde…so schlecht war der nicht!
Das ist doch toll, wenn Dein Alltag vorher gut war! Das ist ja auch alles wirklich total individuell zu betrachten! Schicke Dir ganz viel Energie! halte durch!!!
Werde ich mir jemals wieder von der Schule etwas vorschreiben lassen? „Sie können ihr Kind nicht für 2 Tage beurlauben, es herrscht Schulpflicht in Deutschland!“ Nein. Denn sie haben mich monatelang hängen lassen.
Danke für diesen Beitrag, liebe Tanya! Du sprichst mir aus der Seele. Wie ich je wieder in dieses alte Korsett passen soll, ist mir auch ein Rätsel. Aber müssen wir das überhaupt? Wenn mir die Schule zukünftig 2 Tage Befreiuung verwehren will, werde ich sie auf jeden Fall auslachen. LG, Nadine
Liebe Nadine,
jeder muss für sich schauen! Wenn man Berufe hat wie wir, die man flexibel von überall aus ausüben kann, dann hat man natürlich viel mehr Gestaltungsfreiraum! Aber mir ghet es so wie dir!
Liebste Grüße!
Ich denke jeder muss für sich den richtigen Weg finden, unabhängig davon was uns durch Gesellschaft und Politik vermeintlich vorgegeben wird. Natürlich gibt es Zwänge – die gab es vor Corona auch schon und auch die Change sich diesen nicht zu unterwerfen. Aber diese Krise – wenn man dies so nennen darf, ist die Change – etwas zu verändern. Jeder kann das – da engt einem die Politik und auch die Gesellschaft nur bedingt ein. Was interessieren mich die auch, ich bin denen doch auch egal.
Also mach ich was ich will – also im Rahmen dessen was möglich ist – jedoch dann diese gewisse Freiheit zu 100 Prozent. Barfuß gehen wo es sonst keiner macht – anziehen was sonst keiner anzieht oder essen was ich mach und vielleicht andere nicht. Spaß haben und das Leben genießen – das Leben eben genießen. Ich Dusche ab 10 Grad draußen kalt im Garten – nackt und keiner meiner Nachbarn hat sich bisher beschwert – ist ein gutes und befreiendes Gefühl und ich schlafe nach eine Flasche Wein im Wintergarten die Nacht und mein Sohn 9 Jahre, schläft nicht in seinem Bett, sondern im Dachboden auf eine Matratze. Das ist die – meine neuen Freiheit und das Teams Meeting zig Mal am Tag und die Homeschooling Aufgaben machen wir dann zusammen und bekommen wir auch hin, wobei ich den Rechenweg auch nicht immer verstehe.
Ich hoffe die alte Normalität kommt nicht wieder – was Neues – das ist gut!
Oh, das hört sich toll an!!! Weiter so!!!
Dein Bericht spricht mir aus dem Herzen! Genau das habe ich Freitag beim Hunde ausführen im Grunewald gedacht! Biergarten war voll,voll! Livemusik und enges Beisammensein und ich sitze nun seit 12 Wochen mit 3 Kindern im Homeschooling…..was ich eigentlich toll finde, wäre da nicht diese qualvolle, reglementierte Zurückführung in die Schule……sieht anders von den Regeln als im Biergarten aus…..
Danke für deinen Beitrag 👍🏻
Viele Grüße, Ruth
Ich gönne es so sehr der Gastronomie, aber alles andere ist so absurd…..
Liebe Ruth! Danke! Und ja, genau das denke ich auch! Liebste Grüße!
[…] Marshall hat mir mit diesem Beitrag mal wieder aus der Seele gesprochen. Nachdem hier monatelang erfolgreich im Homeoffice gearbeitet […]
Ein großartiger Beitrag und herrlich ehrlich geschrieben! Vielen Dank dafür ♥
DANKE!<3