Vor 2 Jahren bin ich durch Deutschland gereist und habe 30 Mütter mit den unterschiedlichsten Backgrounds und Lebensentwürfen für mein Buch „Mütter aus Deutschland“ interviewt. Eine von ihnen ist Anna. Anna wurde in Indonesien geboren und adoptiert. Wir haben schon in unserem ersten Interview über ihre Erfahrungen mit dem alltäglichen Rassismus gesprochen. Jetzt – 2 Jahre später – habe ich ihr erneut ein paar Fragen zur aktuellen Debatte gestellt und sie um ihre Gedanken dazu gebeten.
Aber lest selbst – zunächst ihre Gedanken. Und wer das Interview aus dem Buch nicht kennt, kann auch das gleich noch im Anschluss lesen!
Liebe Anna, wie empfindest du die aktuelle Debatte und Entwicklung?
Die aktuelle Debatte ist längst überfällig, Rassismus ist nichts Neues, und dass es ein Video davon braucht, wie ein Schwarzer auf offener Straße von staatlicher Hand ermordet wird, ist ein erbärmliches Zeichen. Wann immer die Wut und Diskussionen nach einem Vorfall in Deutschland aufkamen (z.B. Hanau) war mein erster Gedanke: „Wie könnt ihr (Weiße Menschen) überrascht und schockiert sein? Habt ihr uns in all den Jahren nicht zugehört oder habt ihr uns nicht geglaubt?“
Deswegen war ich oft still und habe meine Meinung nicht geäußert, was ich mittlerweile als unfair gegenüber all meinen Mutuals (Gleichgesinnten) und Allies (Mitkämpfern) empfinde, da sie sich ganz vorne hingestellt haben und laut waren. Deswegen bin ich derzeit auch aktiver, als ich es in den letzten Jahren war.
Du lebst in einem Vorort von Stuttgart . In den Großstädten sind viele Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen zu sehen. Wie sieht es bei euch aus? Wie kommen diese Entwicklungen in deinem Alltag an und wie ist die Resonanz deiner unmittelbaren Umwelt?
Wenn ich in meinem Fenster eine Pride-Flagge und ein BLM Poster platziere, ist das mehr Protest und Demo als mein ganzer Ort bietet. Ich lebe in einem extrem weißen Umfeld, bin auch in einem solchen aufgewachsen. Und zwar nicht nur weiß, sondern auch privilegiert und ignorant.
„Wenn ich mein Umfeld in Diskussionen rund um Rassismus einbeziehen würde, hätten wir ruckzuck keine sozialen Kontakte mehr.“
Woke Allies habe ich persönlich nur im Internet gefunden und dies zu allen Themen, die mich und meine Familie betreffen. Wenn ich anfangen würde, Nachbarinnen und Kindergarteneltern in Diskussionen rund um Rassismus einzubeziehen, hätten wir ruckzuck keine sozialen Kontakte mehr.
Ich muss mich an Fasching immer schon zurückhalten, wenn Kinder als Chinesen oder Indianer verkleidet in den Kindergarten kommen. Diese für mich essentiellen Themen kommen hier höchstens als Thema in den Nachrichten an oder weil jemand mal was bei Facebook liked. Kaum jemand in meinem Offline-Leben ist von diesen Problemen betroffen und somit werden diese auch kaum wahrgenommen.
Es ist nicht angenehm, sich an die eigene Nase zu fassen und sich selbst zu hinterfragen, mit was für Bildern man eigentlich aufgewachsen ist und wieviel Alltagsrassismus jeder Einzelne von uns lebt bzw. hinnimmt. Ich erlebe aber auch, dass viele gar nicht wissen, welche Fragen sie stellen dürfen.
Kannst du uns sagen, welchen Umgang du dir wünschen und über welche Fragen du dich freuen würdest?
Ich habe gemerkt – wie so viele BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) in den letzten Wochen dass wir als Experten gelten, was Rassismus angeht. Viele Leute fragen jetzt ganz viele Fragen, wollen maßgeschneiderte Vorgaben haben, wie sie sich verhalten sollen, weil sie unsicher geworden sind. Es ist schön, dass Aufmerksamkeit geschaffen wurde, aber die Arbeit fängt eigentlich jetzt erst an. Jeder, der sich informieren will, kriegt das mit einem Buch oder Artikeln von BIPoC über Rassismus hin. An erster Stelle steht, (Alltags)Rassismus zu erkennen, die Komplexität zu sehen und zu begreifen, auf wie vielen Ebenen Diskriminierung und Hass besteht.
„Viele Leute stellen jetzt ganz viele Fragen, wollen maßgeschneiderte Vorgaben haben.“
Unsere Hilflosigkeit und Wut kann man dann vielleicht ein bisschen besser verstehen. Als Nächstes kommt die Arbeit an sich selbst: „An welcher Stelle bin ich rassistisch (gewesen)? Was kann ich besser machen? Wann halte ich einfach den Mund, um anderen Stimmen Raum zu geben? Und wann akzeptiere ich Geschichten über Rassismus als valide Erfahrungen, auch wenn ich mir selbst im Leben nicht vorstellen kann, dass mir sowas passiert?“
„Ich selbst habe Äußerungen getätigt, die ich mit meinem heutigen Wissensstand als rassistisch empfinde.“
Ich selbst habe im Interview für dein Buch zum Beispiel gesagt, dass „mich Asien als Reiseland nicht interessiert“. Das ist allergrößter Unsinn, denn es sollte asiatische Länder heißen. Auch dass mir das Essen Bauchweh bereitet, war schlecht gewählt, weil ich eigentlich lediglich über ein paar Gewürze sagen kann, dass ich sie nicht gut vertrage. Aber das sind bereits Äußerungen, die ich mit meinem heutigen Wissensstand als rassistisch empfinde. Und das Interview ist gerade mal 2 Jahre her.
„Der ultimative Schritt ist, an den richtigen Stellen laut zu sei. Jeder Satz ist eine Unterstützung für uns.“
Der ultimative Schritt ist dann, an den richtigen Stellen laut zu sein. Über rassistische Kommentare nicht zu lachen, sondern zu sagen: „Das ist nicht lustig, das ist rassistisch.“ Wenn man sich traut, auch mal in der Familie gegenüber ignoranten oder einfach auch älteren Familienmitgliedern Position zu beziehen. Ich verstehe, dass das der schwierigste Schritt ist und zu super unangenehmen Gesprächen führen kann. Wie oben beschrieben, scheue ich mich selbst oft genug. Und leider gilt das Wort von weißen Menschen immer noch mehr. Aber jeder Satz ist eine Unterstützung für uns. Denn Rassismus ist ein strukturelles Problem, das an jeder möglichen Stelle bekämpft werden muss.
„Mütter aus Deutschland“ – Interview, Sommer 2018
„Meine Adoption war kein identifikationsgebender Faktor“, sagt Anna, die in Jakarta, Indonesien, zur Welt kam und im Alter von einem Monat adoptiert wurde. „Ich muss sogar sagen, dass mich Asien auch als Reiseland überhaupt nicht interessiert – ich leide unter Reiseübelkeit, die Länder sind mir zu heiß, und bei dem Essen kriege ich Bauchschmerzen.“ Anna kommt als Nesthäkchen in die Familie. Ihre vier Jahre ältere Schwester wurde aus Peru adoptiert, die leibliche Tochter ihrer Eltern ist zwei Jahre älter als sie und sitzt aufgrund einer körperlichen Behinderung im Rollstuhl. „Das hat natürlich die Optik unserer Familie sehr geprägt.“
Als die Kinder noch klein sind, bauen ihre Eltern ein Unternehmen auf. „Ich bin mit einer Mutter aufgewachsen, die zwar mittags da war, als wir noch kleiner waren, die aber immer gearbeitet hat. Dass meine Mutter arbeitet, war der Normalzustand. Daheim zu bleiben war nie eine Option.“
Aber so wie sie jetzt das Muttersein lebt, kommt ganz allein aus ihr: „Die Art von Mutter, die ich jetzt bin, kannte ich vorher gar nicht. Ich mache nicht bewusst das Gegenteil, aber ich mache es auch nicht bewusst genauso. Ich bin vielen Elternblogs gefolgt. Ich habe mich viel mit meinem Partner ausgetauscht. Und viele meiner Ansichten haben sich auch durch meine Partnerschaft geändert. Wie leben unseren Erziehungsstil unseren Kindern vor: Ganz wichtig ist für uns ein respektvoller Umgang miteinander. Bei uns gibt es keinen Liebesentzug oder Ausgrenzung, und es wird auch nicht gebrüllt. Unser Stil funktioniert für uns, das heißt aber nicht, dass er für andere funktioniert.“
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich und ihre Wurzeln empfindet, trifft aber nicht immer auf Gegenliebe. „Natürlich bin ich dem Rassismus in Deutschland ausgesetzt. Wenn ich meine Schwester früher im Rollstuhl geschoben habe, dann kriegten wir schon mal ein ‚Hitler hätte euch vergast‘ hinterhergerufen. Es ist nach wie vor so – je ländlicher die Gegend ist, desto schwieriger. In größeren Städten ist er so nicht spürbar.“
Als Anna 20 Jahre alt war, schepperte es einmal in der Familie. Sie zog aus und es herrschte drei Jahre Funkstille zwischen ihr und ihren Eltern. „Aber schlussendlich ist Blut dicker als Wasser“. Mittlerweile arbeitet sie mit ihrem Mann in dem Unternehmen der Eltern. Das ist nicht immer leicht. Auch wenn man annehmen würde, dass man sich im eigenen Familienbetrieb die Elternzeit und Arbeitszeiten selbst einteilen kann, sind dann doch unternehmerische Zwänge manchmal stärker. „Mein Mann würde gerne mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Auch Elternzeit wäre eine Option. Aber das ist mit den Abläufen in so einem kleinen Unternehmen nicht zu koordinieren.“
Annas zweites Kind, ein Junge, hat das Downsyndrom. „Wir wussten das ganz früh und es war klar, dass wir es kriegen. Ich habe einmal geweint. Aber nicht meinetwegen, sondern wegen der Chancen, die er nicht haben oder die man ihm nicht geben wird. Ich empfinde das nicht als ein Schicksal, das wir zu meistern haben. Natürlich ist meine Familie diverser als die meisten. Durch die Schule, auf die meine Schwester ging, ist mir keine Behinderung fremd.“ Neulich waren sie einmal alle zusammen im Supermarkt. Ihre ältere Schwester saß im Rollstuhl, auf deren Schoß kuschelte sich ihr älterer Sohn, während Anna den Rollstuhl schob und ihr Mann ihren kleineren Sohn mit Downsyndrom auf dem Arm hatte. „Da sind den Leuten fast die Augen aus dem Kopf gefallen. Für meinen älteren Sohn sind Rollstühle aber zum Beispiel nichts Besonderes. Wenn er einen Rollstuhl sieht, dann erinnert ihn das an seine Tante, die er so gerne hat.“
Photocredit Mujo Kazmi
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