Kurz nach meinem Aufstieg in das Universum „Elternvertretung“ spricht mich Sams Erzieherin bei der nachmittäglichen Abholung im Hort an: „Frau Marshall, haben Sie kurz Zeit?“ Ich nicke, und wir gehen vor die Tür. „Glückwunsch zur Wahl zur Elternvertretung“, fängt sie an, ich lächele gequält und murmele irgendetwas Unverständliches.
Sams Erzieherin ist neu. Also, seit 3-4 Wochen hier. Eigentlich soll sie als Erzieherin den Lehrer im Unterricht unterstützen, wegen konstantem Lehrerausfall ist sie in Wirklichkeit aber diejenige, die unterrichtet und versucht, zu retten was zu retten ist. Man sieht ihr nach der kurzen Zeit schon die Mischung aus Verzweiflung und Überforderung an. „Ich wollte mit Ihnen mal kurz über Sam reden.“ Oh Gott, denke ich, was hat er denn jetzt wieder ausgefressen? Der wird mir doch nicht meinen Ruf als Elternvertreterin ruinieren? „Also“, sie holt Luft, „ich habe Sam gestern jetzt mal genau beobachtet. Er ist ja ein sehr energiegeladener Junge.“ Ich nicke. Das ist a) nichts Neues und b) nichts Schlimmes.
„Also“, sie ringt nach Worten, „ich sag es jetzt mal ganz frei heraus: Ich glaube, Sam hat ADHS.“ Ich starre sie an: „Wie bitte?“
„Also, der war gestern gar nicht ruhig zu kriegen, der konnte nicht still sitzen, der konnte sich nicht konzentrieren, der hat nicht gehört, der… der… der… also, das geht über das normale Maß an Unruhe hinaus.“ Ich starre sie – jetzt fassungslos – an und merke, wie sich in mir ein Tsunami aufbaut, der droht, diese Erzieherin unter sich zu begraben, wenn ich mich nicht beherrsche.
Habe ich ein wildes Kind? Auf jeden Fall. Man muss ihm Auslauf geben, wie einem jungen Hund. Er ist neugierig, er fragt mir Löcher in den Bauch, so dass mir manchmal das Ohr blutet. Er ist so selbstbestimmt, dass ich manchmal mit ihm Diskussionen führe, bei denen ich kurz vor dem Durchdrehen bin. Fazit: Er ist ein ziemlich normaler achtjähriger Junge, der sich viel bewegen muss. De facto fällt Sport seit 4 Wochen aus und der neue Pausenhof soll seit September 2017 fertig sein. So steht es auf jeden Fall auf dem Schild, das an dem Baugerüst vor dem Pausenhof klebt.
Ich versuche meinen Tsunami in den Griff zu kriegen, ich atme ein und aus. Ich bin jetzt ja Elternvertreterin. Es wäre nicht gut, in den ersten Tagen gleich der Erzieherin an die Gurgel zu gehen. Pädagogisch einwandfrei und mit fast zitterfreier Stimme schaffe ich es, eine Frage zu formulieren: „Und wie war der Tag gestern?“
Sie sieht mich verwirrt an. „Äh, also ich musste Vertretung machen und war darauf natürlich nicht vorbereitet. Und zuerst liefen die Kinder 20 Minuten ohne Betreuung durch die Schule, weil niemand wusste, wer die Vertretung macht und … naja, Sie wissen ja, das ist nicht so toll, wenn man dann 21 Schüler vor sich hat und nicht vorbereitet ist. Und dieses JÜL von Klasse 1 – 3 ist halt auch nicht leicht. Ich wusste gar nicht, wie ich den Jüngsten und den Ältesten gleichzeitig unterrichten sollte. Und dann haben sich Mohammad, Alexander und Juli auch noch gestritten und Alexander hat Mohammad eine verpasst und dann habe ich alle in einen Kreis gesetzt und habe versucht zu erklären, wie man mit Konflikten umgeht. Und dann ist noch Sport ausgefallen. Und…“
Sie stottert. Mein Tsunami klingt langsam ab. Eigentlich möchte ich die arme Erzieherin am liebsten umarmen, wenn sie nicht gerade meinen Sohn mit einer Schwachsinnsdiagnose abstempeln wollte. „Es war kein guter Tag“, schließt sie ab. „Hört sich danach an“, erwidere ich und meine Welle möchte jetzt lieber den Direktor erfassen, der seine Lehrer nicht pflegt und auf JÜL besteht, ohne ausreichend Personal zu haben. „Mein Sohn hat kein ADHS“, beende ich das Gespräch und gehe, um mein stinknormales Kind aus dieser bescheuerten Institution abzuholen.
Am nächsten Nachmittag sehe ich sie auf dem Schulhof. Sie winkt mir zu und läuft mir entgegen: „Frau Marshall, ich… ich… ich wollte mich entschuldigen. Gestern war kein guter Tag. Ich … Ich habe Sam heute nochmal mit anderen Augen beobachtet. Er ist … ja. also ganz normal. Es war einfach kein guter Tag.“
Und die Moral von der Geschicht‘? Muss das Runde ins Eckige? Oder müssen wir nicht das Eckige endlich mal rund machen?
4 Comments
Tolle Reaktion und gut beobachtet 😉 Ich finde es schlimm,d ass das alles auch schon im Kindergarten abfängt und ich könnte regelmäßig durch Drehen, wenn ich sowas lese… Mir tun auch die überforderten Erzieher / Lehrer leid, aber dafür können die Kids doch nichts!!!
Eine tolle Reaktion als Elternteil!
Du stempelst weder die Erzieherin noch dein Kind ab, sondern hinterfragst professionell aus Elternsicht die Situation und das Verhalten in der Schule (zugegeben auf diese unprofessionelle Unterstellung, denn als Lehrer/Erzieher stellt man keine Diagnosen!) , solche Eltern wünsche ich mir als Lehrerin!
Wenn ich Berichte aus Berliner Schulen lesen läuft es mir immer wieder eiskalt den Rücken hinunter. Hier in Hessen ist es zum Glück (noch!) nicht ganz so schlimm….
Liebe Lucie,
da wäre dein Jesper Juul aber mal bannig stolz auf dich!!
Ich finde auch, dass du souverän reagiert hast.
Chapeau, das muss man erst mal schaffen, nach wilden Tagen, Job, Kratzen im Hals und dann so eine Diagnose zwischen Tür und Angel, uff!
Freue mich auf die nächsten Reporte 😉
Marianne
[…] Als die Lehrerin Lucy sagt, ihr Sohn habe ADHS, spürt sie einen Tsunami in sich aufsteigen- und reagiert dann doch ganz anders. Sehr schöner Post von Lucie Marshall über vorschnelle Diagnosen. […]