Ich hatte mir doch in der Vorweihnachtszeit vorgenommen alles ganz entspannt anzugehen – neben einem erhöhten Yoga-Pensum meine zweite New-Years-Resolution für 2013.
Meine Freundin Raffaella wollte das neue Jahr mit einem schönen Brunch einläuten. Sie hat drei Kinder und ist meine Lektorin, ja, ich habe zwar noch keinen Verlag für mein Buch, aber eine Lektorin! Ha! Wir wollten mal unsere Kieze (Mitte, Wannsee) verlassen und verabredeten uns im Manzini in Charlottenburg.
Das ist ein herrlicher Start in die Woche. Noch schnell Sam in die Kita und dann auf in den Westen. Aber Sam will nicht in die Kita, er schreit wie am Spieß, schmeißt sich aufs Bett: „Bin müde“, will noch ein Buch anschauen, noch „Ein LEGO Turm baue“. Gut, wenn man vollmundig erklärt „Nie wieder Stress“, dann sollte man ja vielleicht sein Kind auch nicht stressen.
„Sam, du musst nicht in die Kita“, erkläre ich dramatisch, als wäre ich Jeanne d’Arc. Jesper Juul wäre stolz auf mich.
Marc schaut mich an: „Das ist zwar sehr nett von dir, aber nimmst du ihn dann mit? Ich habe nämlich ab 9 Uhr durchgehend Meetings.“ „Nö, ich rufe die Babysitterin an“, winke ich ab.
Ich rufe alle potentiellen Helferinnen an. Sie haben alle KEINE Zeit. Na, da habe ich mich aber schön in die Scheiße manövriert. Ich rufe Raffaela an: „Ich komme mit Männerbegleitung. Aber Sam ist echt ganz easy, der malt und wir trinken ganz in Ruhe Kaffee.“ Raffaela ist einverstanden.
Sam ist Feuer und Flamme, zieht sich selber innerhalb von 2 Minuten an und trippelt vor der Tür auf und ab. „Musst du noch mal Pipi?“, frage ich. „Wir fahren jetzt S-Bahn. Da gibt es keine Toiletten.“ „Nein!! Komm Mama“, wird zurück gequakt.
Wir laufen los, steigen in die S-Bahn und 2 Stationen später, kurz vor dem Hauptbahnhof, sagt Sam: „Mama, muss Toilette, bitte.“ Herrlich, wir unterbrechen unsere Reise, fahren mit 4 Rolltreppen, verirren uns 3 Mal und finden dann aber zum Glück eine Toilette.
Keine 55 Minuten später sind wir in Charlottenburg und sitzen im Manzini. Um uns herum das typische Charlottenburger Publikum: Ein Mann mit leicht ergrautem, schulternlagem Haar, Ende Fünfzig, Brille und irgendwie in den Achtzigern stecken geblieben. Neben uns eine Frau vom selben Kaliber. Hinten, in der Ecke, unterhalten sich vier spanische Frauen.
Wir parken den Buggy bei uns am Tisch und packen Sams ganzen Hausstand aus: Malblöcke, Stifte, Bücher, sowie seinen Hasen Harvey und einen Orka, einen Hai und einen Baby-Delphin.
Ich bin total guter Dinge, läuft doch alles bestens: „So, jetzt erst mal einen schönen Cappuccino. Sam ist jetzt eh beschäftigt.“ Raffaella nickt und winkt den Kellner heran. Der kleine, schlecht gelaunte Italiener ist von unserem Mal-Tisch nicht begeistert und nimmt mürrisch die Bestellung auf.
Sam malt einen Strich aufs Papier, ich öffne gerade den Mund, um ein Gespräch mit Raffaela zu beginnen, da höre ich: „Muss Pipi, Mama“.
Ich mache den Mund wieder zu und gehe, leicht genervt, mit ihm auf Toilette. Er quetscht drei Tropfen raus. Kein Wunder, wir hatten ja auch gerade erst unseren letzten Pit-Stopp im Hauptbahnhof.
Dann fängt er an, gründlich die Toilette zu untersuchen: „Was isse das, Mama?“ und zeigt auf den Wasserboiler. So hatte ich mir das nicht vorgestellt: „Pass mal auf, Schätzchen“, sage ich sehr bestimmt, „Mama will jetzt in Ruhe frühstücken und mit Raffaella quatschen und der Deal war: Du darfst mit, aber malst.“ „Ok, Mama“. Ich wusste doch, dass ich ein verständiges intelligentes Kind habe.
Am Tisch angekommen, nehme ich einen Schluck von meinem mittlerweile lauwarmen Cappuccino und schlage gerade die Karte auf, da kommt von rechts: „Mama, musse noch mehr Pipi.“
Ich schaue Raffaella an: „Es tut mir echt leid“, sie zuckt nur gelassen mit den Schultern. Ich schnappe mir Sam und mache mich wieder, dieses Mal schon genervter, auf den Weg zur Toilette: „So, jetzt hör mir mal zu, wir gehen jetzt das letzte Mal auf die Toilette, dann will Mama wirklich Kaffee trinken.“ Sam stimmt sofort zu: „Ok, Mama.“ Er quetscht sich 2 Tropfen raus und ich unterbreche harsch seine Fragen nach dem Raumspray in der Toilette.
Zurück am Tisch hat Raffaella netterweise eine große Apfelsaftschorle für Sam bestellt und uns schon mal ein großes Frühstück: „Mach dir keinen Kopf, ist doch alles ok“, beruhigt sie mich. Das ist zwar total nett, aber ich habe mir das anders vorgestellt.
Ich frage Sam, ob er auch was essen will, als Antwort kommt: „Musse noch mehr Pipi machen, Mama.“ Will der mich verarschen? Aber während ich das denke, setzt zeitgleich meine Mutter-Hysterie ein: „Hat er vielleicht eine Blasenentzündung??“
Ich schaue Raffaella hilfesuchend an, sie hat doch drei Kinder, sie weiß doch bestimmt wie man so eine Situation managet: „Was mache ich denn jetzt?“ „Aufs Klo gehen“, antwortet sie trocken.
Sam rennt aufs Klo, aber sein wirkliches Interesse gilt dem Wasserboiler. Diesmal tut er gar nicht mehr so, als ob er muss, sondern kniet sich gleich auf die Erde und untersucht ihn. Also, keine Blasenentzündung, sondern Forschergeist. Ich bin kurz hin und her gerissen, ob ich jetzt egoistisch auf meinem Kaffee bestehen oder die Neugierde meines Sohnes pädagogisch unterstützen soll. Ich entscheide mich blitzschnell für Ersteres.
Die vier Spanierinnen winken uns mittlerweile schon zu, wenn wir an ihnen vorbeikommen. Zurück am Tisch ist das Frühstück schon da, das Rührei dampft. Noch. Sam nimmt das 0,5 Liter Glas Apfelsaftschorle … und es rutscht ihm direkt aus den Händen auf den Boden. Ich frage mich, was das für ein Glas ist, denn es zerspringt in eine Millionen Scherben und fliegt in ebenso viele Himmelsrichtungen. Die Apfelsaftschorle ergießt sich über Sam, dem Buggy, meinem weißen Fellmantel, Raffaella, der Bank und dem Boden. Faszinierend wie viel man mit einem halben Liter nass kriegt. Raffaella ist ganz cool: „Was ist denn das für ein Glas?“
Der zweite Kellner stürmt mit Besen hinter dem Tresen hervor. Er wirkte noch mürrischer als der kleine Italiener, aber so kann man sich täuschen: „Dees moacht doch nichts“, sagt er mit breiten Wiener Akzent und fegt die Scherben schnell weg. Zum Glück hatte mir Marc noch Wechselwäsche hinterher getragen. Sam und ich gehen jetzt zum 4. Mal auf die Toilette. Im Vorraum der Toilette stelle ich ihn auf den Tisch und ziehe ihn um. Eine der spanischen Frauen kommt aus der Toilette und quietscht vor Entzücken über den blonden Sam und wie er da halbnackt auf dem Tisch steht. Sam ignoriert sie, er will nur zum Wasserboiler.
Zurück am Tisch esse ich mein kaltes Rührei, Raffaella übernimmt solange Sam und spielt mit ihm Verstecken. Erst hinter dem Vorhang der Eingangstür (die ihnen aber fast ein Gast an den Kopf haut.), dann rennen sie Richtung Toilette. Ich verschlinge hastig weiter mein angetrocknetes Rührei und schaue mich verstohlen um, ob schon jemand total sauer ist. Aber interessanterweise scheine ich die Einzige (bis auf den italienischen Kellner) zu sein, die genervt ist. Der grauhaarige Herr liest entspannt weiter Zeitung, die Frau neben mir nickt mir freundlich zu und geht auch zur Toilette.
Bin ich total spießig? Bin ich eigentlich eine von denen, die ich immer als kinderfeindlich beschimpfe? Raffaella sagt immer: „Ist doch toll, dass man als Mutter soviel mehr machen darf, als ein „normales“ Mitglied der Gesellschaft. Ich kann in high heels, Grimassen schneidend und tanzend einen Kinderwagen schieben. Da hat jeder Verstaändnis. Man lebt in der besten Ausrede der Welt für diese andere Seite in einem, die man in teuren Workshops wieder aktivieren muss!!“ Recht hat sie. Was ist eigentlich mein Problem?
Ich höre Sam von der Toilette brüllen: „MAMA“. Ich zucke zusammen, aber der Wiener Kellner lacht. Ich würge schnell mein Salami-Brötchen runter und haste zur Toilette. Sam hockt mit Raffaella unter dem Tisch im Vorraum der Toilette und gluckst vor Lachen. Neben Sam sitzt die Frau vom Nachbartisch und lacht, fast hysterisch. Ich komme mir jetzt wirklich wie eine blöde Spaßbremse vor. „Ach, da seid ihr!“ lache ich gezwungen fröhlich. Alle drei bekommen sich gar nicht mehr ein vor Kichern. „Mama hat uns funden“, quietscht Sam.
Wir gehen zurück an unseren Tisch, der Wiener Kellner kommt tänzelnd mit einer Tasse Milchschaum und 3 Keksen für Sam an: „Des hoat der kleine Herr doch bestiemmt bestellt“, zwinkert er Sam zu. Alle sind super gelaunt und amüsieren sich köstlich, nur mich kostet es anscheinend schier übermenschliche Kräfte, mich von meiner Vorstellung eines ruhigen Brunches zu verabschieden. Aber mal Hand aufs Herz: Welche Variante ist unterhaltsamer?
Nicht nur, dass dieser Vormittag einfach mal völlig anders verläuft als ich gedacht habe: Hier werden auch alle Klischees mal gerade gerückt: Denn die einzigen total unentspannten Teilnehmer dieser Unternehmung sind der italienische Kellner (die verfügen doch angeblich alle über das Gen „Kinder sind das Größte“??!!) und dann diese Mutter, die von sich behaupten würde, so unfassbar lässig zu sein … also, hier gleich die dritte New-Years-Resolution:
Nicht nur labbern, wie lässig man ist, liebe Lucie, sondern es auch mal sein! Ich meine, was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall gehe ich nie wieder ins Manzini. Oder nur mit Perücke.
Tags: Jesper Juul Klischees New Year
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