Auf dem Weg zum Kindergarten kommt es fast jeden Morgen zu einer Begegnung der fünften Art. Sam und ich begegnen nämlich fast täglich einer älteren Dame, die uns buchstäblich den Atem verschlägt. Sie ist um die 70 und trägt die unglaublichsten Outfits: Glitzernde Snakeskin-Leggings zu karierter Seidenbluse mit neongrünen Turnschuhen. Ihr Gesicht ist immer perfekt geschminkt und kein Haar liegt nur zufällig an seinem Platz.
Auch gestern sehen wir sie. Und während Sam und ich mit glänzenden Augen ihr heutiges Outfit bewundern (pinke Leoparden-Leggins und Oversize Pulli mit Fellkragen), überholen uns mit sehr eiligen Schritten ein Mann und eine Frau und werfen der Lady abschätzige Blicke zu. Im Vorbeigehen höre ich Wortfetzen wie „gruselig… in dem Alter… hässlich… exzentrisch“. Sam stupst mich an und fragt: „Was haben die said, Mama?“
„Etwas sehr, sehr Dummes“, ist das Einzige was mir dazu einfällt.
Eigentlich hätte ich ihnen hinterherbrüllen sollen: „Geht’s noch? Was ist denn mit euch los? Ein bisschen mehr Respekt bitte!“
Mal ganz ehrlich: Während ich froh bin, morgens angezogen und mit geputzten Zähnen aus dem Haus zu kommen, und ich es vielleicht gerade noch schaffe, mir ein paar Armbänder überzustreifen und einen Hauch von Lippenstift aufzutragen, investiert diese alte Dame viel Mühe in ihr Äußeres und versüßt damit unseren morgendlichen Weg. Sie bringt buchstäblich Farbe in unsere Welt.
Warum also so abfällig? Und so verächtlich? Es muss einem ja nicht gefallen und niemand zwingt einen, es ihr nachzutun. Aber man könnte doch auch sagen: „Wie großartig! Was für ein gewagt-gekonnter Einsatz! Zum Glück übernimmt sie diesen Auftrag, die Welt bunter zu machen! Dann muss ich das nicht machen.“
Man könnte doch auch mit einem breiten Lächeln an ihr vorbeigehen. Ist es denn so erstrebenswert, dass wir alle gleich aussehen? Warum nutzt man es nicht als Inspirationsquelle? Und warum ist dieses Wort Exzentrik eigentlich so negativ konnotiert? Im Duden steht über die Bedeutung des Wortes Folgendes: auffällig, aus dem Rahmen fallend, ausgefallen, extravagant, extrem, spleenig, überspannt, übersteigert, übertrieben, überzogen, ungewöhnlich, verstiegen, vom Üblichen abweichend.
Mmm, also ich spüre da überwiegend positive Vibes, oder? Ich gebe zu, überspannte Menschen können manchmal ein bisschen anstrengend sein. Aber wie würde diese Welt nur aussehen, wenn wir alle gleich aussähen? Warum verehren wir denn Menschen wie Madonna, die sich gefühlt alle 3 Wochen neu erfindet? Oder Vivienne Westwood, die mit Mitte 70 wirklich alles andere als angepasst ist. Sind diese Menschen nicht das Salz in der Suppe? The icing on the cake?
Ich ärgere mich maßlos über mich selbst, dass ich den Mund nicht aufgemacht habe. Ich ärgere mich, dass ich der alten Dame nicht zur Seite gesprungen bin. Aber das hole ich nach. Jetzt bin ich gewappnet. Ich glaube, ich werde für mich und Sam T-Shirts mit der Aufschrift drucken: „I love it! Thank you for colouring up my day!“
Tags: Fashion Männer & Frauen
15 Comments
Anders sein/anders aussehen war schon seit jeher den meisten Menschen ein Dorn im Auge. Über Toleranz reden immer unglaublich viele Menschen. Die wenigsten sind es wirklich.
Liebe Grüße.
leider leider wahr… ich drucke noch mehr T – Shirts… 😉
Ich habe festgestellt das ein bisschen „normal“ aussehen mir hilft (hier auf dem Dorf) ernst genommen zu werden. Mit drei Kindern und pinken Haaren, wäre ich hier leider die „Assitussi“, kaum sind die Haare braun bin ich die seriöse Mama.
Einerseits finde ich es schade, das es so ist. Andererseits finde ich es okay, weil ich eben gar nicht mehr so aussehen will. Eure alte Dame finde ich dagegen wieder cool. (Und wenn man überlegt wen man so in Camden Market trifft, dann ist die doch gradezu bügerlich angezogen ^^)
Das stimmt! An anderen Orten würde sie gar nicht auffallen!
Liebe Lucy,
mein Kind muss auch zweisprachig aufwachsen. Obwohl ich nicht weiß, woher die zweite Sprache kommen soll. Aber „was haben die said?“ ist wohl das knuffigste, was je ein Sam gesagt hat 😉
Zu der Knallerfrau: Ich hatte selbst mal so eine in der Nachbarschaft. Sie war allerdings immer gelb angezogen. Immer. Alles. Gelber Regenmantel, gelbe Stiefel, gelbe Röcke, Strumpfhosen mit Sonnenblumen, gelber Regenschrim, Stuplen, Handschuhe und was eine Frau sonst noch so trägt. Auf ihrem Balkon standen Sonnenschirm, Blumen und ein Tisch – auch alles Gelb. Wir haben sie immer die Gelbsüchtige genannt.
Ich habe mich ehrlich gesagt etwas ertappt gefühlt bei dienem Artikel. Weil ich die Gelbsüchtige auch immer nur komisch fand. Ich habe sie nie bewundert oder ihr ein T-shirt drucken wollen 😉
Wahrscheinlich liegt es den Menschen näher, Dinge die sie komisch finden herabzuwürdigen. Ansonsten müsste man sich ja eingestehen, dass man selbst langweilig ist 😉
Du und dein Söhnchen haben jedenfalls meinen Tag bunter gemacht.
Liebste Grüße,
Stefanie
Hi,
Meine Güte. Wie cool ist das denn? Die Frau mit dem gelben Hut? Es gibt diese Kinderbücher und darauf aufbauend die ZeichentrickserZeichentrickserie „Coco der Affe“. Dieser lebt ja bei dem Mann mit dem gelben Hut. Der nur gelb trägt, nur in gelben Häusern wohnt und auch sonst so viel gelb wie möglich um sich hat. Eine Folge zeigt, wie es dazu kam. Er schaut mit Coco Fotos aus seiner Kindheit an und beide finden, dass er in bunten Klamotten total lächerlich aussah. „Siehst du Coco. Seither trage ich nur noch gelb.“
Ich fand das immer so genial. Grade gelb ist ja so eine Farbe, die nur ca. 5 % der hellhäutigen Bevölkerung steht, weil sie oft mit helleren Hauttönen nicht grade optimal harmoniert. (Natürlich nur nach der bei uns verinnerlichten und keineswegs verbindlichen Farblehre) Das solche Entscheidungen bei uns als spleenig wahrgenommen werden, zeigt wirklich deutlich wie unglaublich eng unser Verständnis von Normalität ist und das wirklich ganz ohne irgendeine Notwendigkeit. Ich fürchte, dass auch grade Modezeitschriften und Sendungen wie „Shopping Queen“ diese Engstirnigkeit befeuern. So cool es ist sich selbst, seine Stimmungen, die eigene Persönlichkeit durch Kleidung und Styling auszudrücken, so sehr werden all diese empowernden Aspekte von Mode durch diese „das geht gar nicht!“ Haltung wieder komplett zunichte gemacht.
Sehr toller Artikel übrigens, Lucie! Ich hatte mal eine Vorgesetzte, die einen ähnlichen Kleidungsstil pflegte, wie die von Dir beschriebene Frau. Sie war auch schon über 60. Mein Lieblingsoutfit von ihr war: Pinker schmal geschnittener Anzug und dazu eine Bluse in türkisem Leopardenmuster. Ihre Haare waren eine wilde blonde Lockenmähne. Meine absolute Lieblingsfarbe ist lila und ich habe auch viele lila Kleidungsstücke. Dafür wurde ich von ihr stets gelobt: „Sie tragen heute wieder die Farbe der Frauenbewegung! Sehr gut! Steht Ihnen ausgezeichnet!“ Damals hatte ich einen Kollegen und wir unterhielten uns eines Tages über die bunte, teilweise grelle Kleidung unserer Chefin. Da sagte er: „Meine Spanischlehrerin trägt immer so ganz bunte Kleider. Am Anfang fand ich es lustig, weil ich dachte sie sieht aus wie meine kleine Schwester, die noch zur Grundschule geht. Aber dann dachte ich wie traurig es ist, dass es bei uns zur Gewohnheit gehört ständig in diesen gedeckten Farben rumzulaufen. Da haben wir schon so oft deprimierendes Wetter und unterstreichen es noch durch unsere Kleidungsstücke, die vornehmlich Matschfarbe haben. Toll. Überall Masche. In allen Schattierungen.“ Da mussten wir beide lachen.
Es würde mich wirklich mal interessieren, was die Menschen so für Ideen entwickeln würden, wenn wir der Exzentrik mehr Respekt entgegen brächten. Es wäre bestimmt viel interessanter als jetzt.
LG
Esther
Den Affen „Curious George haben wir auch zuhause! and his friend „the man with the yello hat!“ Super Bücher. Und ja, auf die Ideen wäre ich auch sehr gespannt!
Es ist NIE zu spät für ein T – Shirt! 😉
super – so ist es !
an die menschen, die so sind wie alle anderen und durch nichts auffallen, erinnern wir uns später doch nicht – nur die außergewöhnlichen bleiben uns im gedächtnis..
und jeder sollte versuchen, diese menschen als das zu sehen, was sie sind – BESONDERS 🙂
Yep! Genauso sieht es aus!
Ich habe fest vor, später auch mal so eine „Oma“ zu werden – endlich frei von Zwängen und meiner eigenen Sorge, was die anderen wohl denken könnten…merke jetzt schon, dass mir von Jahr zu Jahr weniger peinlich wird. Am Ende kann ich kleidungstechnisch in den vorgezogenen Ruhestand gehen…;-)
Das ist einen ganz hervorragende Idee! Dann kannst Du ja jetzt schon eine Kiste anlegen mit den Klamotten, die Du dann anziehst!
Hey Lucie,
ich habe mir die Szene bildlich vorgestellt – auch mit dem süßen „Was haben die said?“.
Danke für’s (Mit-)Teilen. Es ist schön, wenn jemand einfach einmal andersherum denkt. Alte Dame in exzentrischer Kleidung = doof. Das kann ja so nicht stehen bleiben.
Deine liebevollen Gedanken über eine Fremde haben mir gerade richtig gut getan.
Ist wie ein heißer Tee am schmuddeligen Herbstmorgen 🙂
In diesem Sinne „thank you dafür“
Lareine
Danke! Das freut mich aber! My pleasure!
[…] Mittwoch, dem 29.10.2014, hat mich der Blog von Lucie Marshall besonders inspiriert. In ihrem Blogpost von Mittwoch ging es um die Exzentrik und was wir ihr […]