„Leben ist das was passiert, während man plant.“ Der Spruch ist nicht neu, aber wenn man keine Kinder hat, dann kann man die Illusion, dass man sein Leben total im Griff hat, besser aufrecht erhalten. Letzte Woche wurde ich, Dank meines Sohnes, wieder daran erinnert, dass dieser Spruch den Nagel auf den Kopf trifft.
Mittwochabend in Sams Zimmer, 19 Uhr:
Sam halb im Schlafanzug, noch schnell die Boxershort aus und die Nachtwindel an. „Habe aua, Mama“, sagt er und spielt an seinem Pullermann. „Wo denn?, frage ich. „Da“, er zeigt auf seinen Pullermann und tatsächlich: Er hat ein riesiges Hämatom am linken Hoden. „Ach, Du Scheiße“, denke ich, will ihn aber nicht verunsichern und sage ganz ruhig: “Wie ist denn das passiert? Tut das sehr weh?“ „Weiss ich ga nich. Große aua“ und dann knetet er aber so auf dem blauen Fleck herum und singt dabei „Bruder Jakob“, dass ich denke: „Okay, Druckschmerz ist anders.“
Marc kommt rein, sieht den blauen Fleck und verzerrt sein Gesicht schmerzerfüllt: „Oh Gott, da müssen wir SOFORT zum Arzt.“ Da ist er wieder, der Männerbund. Wir einigen uns darauf, dass der Arztbesuch auf den nächsten Tag verschoben werden kann. Mir passt das natürlich gar nicht in den Kram. Ich habe Samstagabend eine Moderation und wollte am Donnerstag alles vorbereiten, der Freitag war auch voll mit Terminen. Ich muss auch noch zum Friseur, mein Ansatz ist mittlerweile bei den Ohren. So kann ich unmöglich auf die Bühne. Egal, kurz zum Kinderarzt, dann ab in die Kita. Danach muss ich eben Gas geben.
Donnerstag beim Kinderarzt, 8.30 Uhr:
Das Hämatom ist noch größer geworden. Habe noch mal versucht zu rekonstruieren, wie es hätte passieren können. Keine Ahnung. In der Kita haben die auch nix erzählt. Der Kinderarzt ist proppenvoll. Um 10 Uhr kommen wir endlich dran. Unsere Ärztin Dr. Rosenstein ist im Urlaub und ich verkaufe Sam ihre Vertretung als Freundin von Dr. Rosenstein. Sonst will er nicht die Hose runterlassen.
Sie sieht das Hämatom: „Uih, das sieht aber nicht gut aus. Wie ist denn das passiert??“ Kurze Untersuchung, nach wie vor kein Druckschmerz. Sie rät aber in die Kinderklinik zu fahren: „Das muss man mit Ultraschall untersuchen. Nicht, dass da irgendwas kaputt gegangen ist.“ Mist, Plan für heute dahin. Wie kann ich meinen Zeitplan noch retten, denke ich hektisch. „Könnte ich denn auch heute Nachmittag in die Klinik?“ versuche ich mit der Ärztin zu verhandeln. Ihr Blick lässt mir das Blut in den Adern gefrieren und mein schlechtes Muttergewissen explodieren: „Mit Hoden spaßt man nicht. Sie fahren SOFORT.“ War ja nur eine Frage.
Kinderchirurgie, 11.15 Uhr
Kurz nach Hause gerannt, Auto geholt, Notizblock für mich zum Schreiben der Moderationstexte, Bilderbücher für Sam und Snacks (Reiswaffeln, Brezeln & Wasser) eingepackt. Wir haben uns erst mal total verlaufen auf diesem unsäglichen Klinikgelände. Hier ist Sam zur Welt gekommen und hier haben wir die ersten zwei Wochen verbracht. Es war keine meiner schönsten Erfahrung, aber mehr dazu in meinem Buch.
Schließlich haben wir das richtige Gebäude mit einem vollen Warteraum und auch die richtige Schwester gefunden. Ich halte ihr die Überweisung hin. Sie gluckst vor Lachen, schaut ihre Kollegin an und sagt: „Ultraschall…das kriegen wir heute bestimmt nicht mehr rein … soll ich oder willst Du?“ Hinter ihr an der Wand hängt ein Schild: Stress-Survival-Kit „Bang your head here“. Na, das ist doch viel versprechend.
Sie dreht sich zu mir: „Eher utopisch. Kann ich mal Ihre Versicherungskarte haben“. Sie sieht die Karte: „Ach so, privatversichert! Einen kleinen Moment bitte, das geht gleich los.“ Ich werde rot während wir an den wartenden Kassenpatienten vorbei in den Behandlungsraum geführt werden.
Ich muss Daniel Bahr schreiben. Das ist doch völlig absurd, dass man allen Ernstes fast einen knapp Dreijährigen weggeschickt hätte, weil er die falsche Karte hat. Wobei es vielleicht sinniger wäre sich an Avaaz zu wenden. Die hätten eine Unterschriften-Kampagne gestartet und die UN eingeschaltet bevor Daniel Bahr überhaupt meinen Brief geöffnet hat.
Behandlungszimmer, 13.30 Uhr
Wir sitzen seit zwei Stunden in einem Behandlungszimmer. Wir haben schon mal 3 Mal das Ultraschallgerät inspiziert, 7 mal die Fische-Aufkleber im Flur begutachtet, 3 Mal in andere Räume geschaut und besprochen, warum das kleine Baby weint (beide Hände eingegipst), 5 Mal auf die Tastatur des Computers mit dem Schild „Nicht anfassen! Wartezeiten verlängern sich, wenn die Technik nicht funktioniert“ gehauen, 4 Mal die Bücher gelesen, 1 Mal probiert an meinen Texten für die Moderation zu arbeiten (hoffnungslos), alle Reiswaffeln gegessen und die Brezel zur Hälfte. Mittlerweile liegt Sam total müde auf der Liege und ich hänge halb mit darauf.
Wir sind kurz davor einzuschlafen, als eine Ärztin reinkommt. Auch sie muss ich Sam als „gute Freundin“ unserer Kinderärztin Frau Rosenstein verkaufen. Gut, ich kann das verstehen, man will ja auch nicht jeden an seine Kronjuwelen lassen. Nach zwei Minuten erklärt sie, dass sie auch nicht mehr Kompetenz hat als unsere Kinderärztin und dass sie sich mit einem Kollegen besprechen muss, sie aber zum Ultraschall raten würde. An dem Punkt waren wir heute Morgen um 10 Uhr auch schon.
Warteraum vor Ultraschall, 14.15
Auch der Kollege rät zum Ultraschall. Surprise, surprise. Jetzt sitzen wir einen Stockwerk tiefer wieder im Warteraum. Zum Glück gibt es eine Spielecke. Sam ist zwar mittlerweile so übermüdet, dass er mit knallroten Wangen und glasigen Augen auf der Burg rumtanzt, aber ich versuche die Zeit zu nutzen, um an den Texten zu arbeiten. Kaum fange ich an, werden wir aufgerufen. Wir haben keine 10 Minuten gewartet. Beschämt gehe ich an dem Vater des kleinen Jungen mit den eingegipsten Händen vorbei. Wir hatten beide schon oben im Wartezimmer von links überholt. Ich mache im Kopf eine Notiz an mich selber: Nicht den Brief an Daniel Bahr vergessen! Der soll mal hier einen Tag verbringen.
Warteraum 1.Stock, 15.00 Uhr
Der Ultraschall hat keine 10 Minuten gedauert. Netter Arzt, aber Sam brüllte und wollte nicht noch mal jemanden an seinen Pullermann lassen. Habe den Arzt als Dr. Rosensteins „allerbesten Freund“ verkauft.
Es ist alles ok. Einfach nur ein blöder blauer Fleck. Jetzt noch kurz mit der Ärztin sprechen und dann ab nach Hause. Wir haben beide wahnwitzigen Hunger. In dem Automaten im Wartezimmer gibt es nur Waffeln (von denen der Zucker runterbröselt), M& M’s, Gummibärchen, Snickers und Cola. Auch darüber muss ich mal mit Daniel Bahr sprechen: Haben die ein Rad ab??? Die Krankenkassen schlagen Alarm, weil es zu viele übergewichtige Kinder gibt und im Wartezimmer eines Krankenhauses (Hallo? Krankenhaus!) kriegt garantiert jeder einen Zuckerschock. Ich weiß nicht, ob ein Brief an Daniel Bahr reicht. Vielleicht rufe ich lieber gleich Ulrich Meyer von der SAT.1 Sendung „Akte 2012“ an.
Zuhause, 16.00 Uhr
Ich habe mittlerweile brüllende Kopfschmerzen und bin mit meinen Vorbereitungen keinen Schritt weiter gekommen. Sam brüllt vor Hunger und Müdigkeit. Wir schlingen schnell ein paar Nudeln vom Vortag runter und legen uns ins Bett. Eigentlich müsste ich die Zeit, in der er schläft, nutzen und an den Texten arbeiten. Aber ich kann nicht. Ich bin im Eimer. Wir legen uns hin und sind in drei Minuten weg.
Bett, 17.00 Uhr
Ich wache auf und schleiche mich aus dem Zimmer. Schnell einen Kaffee, dann muss ich Sam aufwecken, sonst kriegt der heute Abend nicht die Kurve. Arbeiten muss ich dann eben wenn er schläft.
Man könnte jetzt denken, ja doofer Tag. Passiert. Aber Ihr dürft Euch freuen: Jetzt geht es erst richtig los. Und zur Feier des Tages gibt es Teil 2 gleich morgen … so stay tuned. You’ll love it!
Tags: alles anders Mutterwürde
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