Ich knie mitten im Supermarkt in meinem dicken Lammfell-Wintermantel und mir läuft der Schweiß den Rücken herunter, während Sam schluchzend auf meinen Knien sitzt.
„Mama“, weint er bitterlich, „wenn ich groß bin, dann werde ich nicht mehr bei euch wohne…“
Er weint so doll, als ob er morgen ausziehen müsste. Ich versuche ihn zu beruhigen. „Süßer, du musst gar nichts. Du bleibst bei uns, so lange du willst!“ Es kommt nicht an.
„Mama, und warum durfte ich den Hund nicht streicheln?“, schluchzt er jetzt noch lauter.
Tatsächlich wollte er vor dem Supermarkt einen großen Hund streicheln und hatte den Besitzer vorbildlich gefragt, ob er dürfe. (Das hat er ja in London gelernt). Der Hundebesitzer aber schüttelte den Kopf und erwiderte barsch: „Ein Hund ist kein Spielzeug!“
Ich gab zurück, dass Sam ja auch nicht spielen, sondern nur den Hund einmal streicheln wollte. Die Antwort wurde nur noch barscher: „Ich kann das jetzt noch 30 Mal wiederholen, ein Hund ist kein Spielzeug. Kapieren Sie das endlich mal!“
„Sam manche Leute sind einfach bescheuert“, versuche ich jetzt meinen unglücklichen Sohn mit einer Kurzversion die Psyche des Hundebesitzers zu erklären. Auch das kommt nicht an.
„Aber Mama, wohnt da jetzt einer bei Luis? Sonst kann ich dann da doch wohnen!“ Luis, sein liebster Nachbarsfreund ist ja vor kurzem weggezogen. Jetzt spekuliert Sam auf die Wohnung. „Dann bin ish nish so weit.“ Er schluchzt und heult in meinen Fellkragen und alle Themen überlagern sich gleichzeitig und werden eins. Wir sitzen so für 10 Minuten, dann tun mir die Knie weh und Sam ist erschöpft.
„Komm, Süßer, wir kaufen jetzt Gummibärchen und deinen Lieblingssmoothie und gehen nach Hause.“ Und das tun wir dann auch. Und zuhause legen wir uns ins Bett, teilen uns die Tüte Gummibärchen und lesen „Asterix in Spanien“. Und langsam beruhigt sich Sam.
Ich erinnere mich gut an ähnliche Momente als ich ein Kind war. Manchmal überfiel mich einfach eine unglaubliche, uferlose Trauer. Es war nicht zu erklären. Vielleicht war es die Angst zu wachsen und vielleicht war es einfach die nächste Wahrnehmungsstufe, die sich eröffnete, und mir einen Schrecken einjagte. Ich konnte dann heulen, weil die Schokolade im Schoko-Croissant an der falschen Stelle war oder die Tulpen zu rot waren.
Meine Mutter nannte das immer den „Weltschmerz “. Und das erklärte dieses undefinierbare Gefühl und die Tränen und der Wunsch nach „Ich will zurück in den Bauch“. An solchen Tagen gab es bei uns zuhause heißen Kakao mit ganz viel Sprühsahne. Und ich durfte mir die Sprühsahne in den Mund sprühen. Und ich durfte einfach im Bett bleiben und meinen Marmeladentoast essen.
Und nachdem wir das Heft ausgelesen haben und die Gummibärchentüte leer ist, steht Sam auf und sagt: „Ich spiel jetzt Lego.“ Der Tank ist wieder voll, der Weltschmerz ist gelindert und ich denke: „Was habe ich nur für eine schlaue Mutter.“
Tags: Mütter
1 Comment
Oh der Weltschmerz, Freud lässt grüssen 🙂 !
Wirklich schön das es so schlaue Mütter gibt die dann so schlaue Töchter haben!
You made my day !