Ich habe eine sehr gute Vorstellungskraft, um nicht zu sagen eine blühende Phantasie. Manchmal ist das ausgesprochen nützlich. Wenn wir zum Beispiel in eine neue Wohnung ziehen (was wir irgendwie alle drei Jahre machen), dann muss ich nur durch die Zimmer gehen und sehe sie sofort eingerichtet vor mir. Ich sehe die Farben an den Wänden, wie die Bilder hängen werden. Und wenn ich uns dann schon dort feiern sehe, ist die Wohnung unsere.
Blöderweise funktioniert diese Vorstellungskraft aber auch, wenn es um kleine Wehwehchen geht. Ein Beispiel:
Ich bin im Supermarkt und es zwickt mich im Oberschenkel. Der erste Gedanke ist „Scheiße, ich müsste mal wieder zum Yoga.“ Vor dem Kühlregal bei der Milch bin ich schon bei: „Vielleicht ist das aber auch die Bandscheibe und ich muss operiert werden.“ An der Käsetheke liege ich bereits auf dem OP-Tisch und kriege vom Chefarzt die Nachricht überbracht, dass ich wahrscheinlich für immer vom Hals abwärts gelähmt bin. An der Wursttheke stehe ich dann schluchzend vor dem Aufschnitt, weil ich die OP nicht überlebt habe, ich Sam nicht aufwachsen sehe und doch noch so viel erleben wollte. An der Kasse angekommen, bin ich ein emotionales Wrack, kann mich kaum mehr auf den Beinen halten und will nur noch nach Hause.
Der ganze Ablauf dauert ca. 10 Minuten. Ich schaffe das aber auch locker in 4, 5 Minuten. Die Einkäufe lasse ich stehen. Man darf ja nicht schwer tragen bei Bandscheibenvorfällen.
Natürlich renne ich dann zum Arzt (zum Glück haben wir alle Ärztekategorien im Freundeskreis abgedeckt.). Da gebe ich mich aber ganz cool. Während in mir der Horrorfilm weiterläuft, gebe ich mir nach außen keine Blöße und tue ganz gelassen. Wenn der Orthopäde dann sagt: „Muskelverspannung, du solltest mal wieder zum Yoga“, winke ich lässig ab und sage: „Ja, klar, habe ich mir eh gedacht.“
Seit Sam auf der Welt ist, hat sich dieser Mechanismus eher verschlimmert. Und vor allem beziehe ich ihn jetzt mit ein … Er hat Schnupfen, ich google nach homöopathischen Hausmitteln und lande plötzlich bei Hirntumoren.
Die Sorge für diesen kleinen Menschen macht mich wahnsinnig. Und es gibt ja tatsächlich genug Geschichten aus dem Bekanntenkreis, die so beginnen und mit den furchtbarsten Dingen enden. Am liebsten würde ich ihn in einen großen Wattebausch einpacken und ihn vor allen schlimmen Sachen beschützen. Vor Krankheiten, Enttäuschungen, Liebeskummer, dem ersten Kater, doofen Lehrern, und ich weiß nicht was noch alles.
Nur wohin? Auf eine einsame Insel in der Karibik? Da kann er dann zwar keinen Liebeskummer bekommen, weil da ist niemand zum Verlieben ist. Aber was ist mit furchtbaren Masern und Gott behüte – dem Gehirntumor? Der macht doch auch nicht vor der einsamen Insel halt. Wo soll ich nur hin? Das macht mich fertig.
Mein Freundin Esther sagt immer: “Du musst die Angst wegdrücken und ihr kognitiv begegnen: die Sachlage laut aufsagen.“ Ich habe das versucht. Ich bin laut redend durch den Supermarkt. Es hat nur kurze Erleichterung gebracht. Aber wenn ich die Angst wegzaubern könnte, dann wäre ich ja auch Gott. Und irgendwie scheint Gott ja auch keine Lösung zu haben.
Es ist egal wie ich es drehe und wende, ich komme aus der Nummer nicht raus. Ich habe das Leben einfach nicht unter Kontrolle.
Tags: Flucht Leben
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