„Sam, räumst du bitte dein Lego weg?“„Mama, späta“, lautet seine Antwort. Doch dann sieht er hoch zu mir: „Oder kommt die Putzfrau morgen?“ Das ist seine einzige Angst: Die Putzfrau könnte sein Lego wegsaugen. „Nee, die kommt erst übermorgen“, antworte ich dummerweise wahrheitsgemäß und er rührt sich nicht vom Fleck.
Ich beobachte das Phänomen „Dinge aufschieben“ bei Sam schon längere Zeit. Ein ganz eindeutiges genetisches Indiz, das hat er von mir.
Warum ist das so? Warum verschiebt man Dinge bis zur letzten, aber wirklich auch allerletzten Sekunde? Und handelt erst, wenn der Druck so groß ist, weil die Putzfrau das Lego wegsaugen könnte. Oder wie in meinem Fall, wenn die Deadline so nah ist, dass ich einfach gar nicht mehr anders kann. So war das schon immer bei mir. Und anscheinend auch bei meinem Sohn.
Mit dem Lernen für die Geschichtsklausur fing ich an, wenn andere bereits 8 Notizbücher voll geschrieben hatten. Ich musste den drohenden Atem von meinem Geschichtslehrer förmlich im Nacken spüren, dann erst bewegte ich mich. Allerdings war ich dann auch schnell. Und meistens ging alles glatt. Manchmal natürlich auch total in die Hose. Aber ohne diesen Adrenalinkick, ohne hektische Flecken im Gesicht und Panikattacken bewegte ich mich nicht keine Sekunde zu früh. Und die traurige Wahrheit: Es hat sich nichts geändert. Letzte Woche sollte ich 4 Kolumnen für die Freundin und 3 weitere Texte und vor allem an meinem Buch weiterarbeiten. Dazwischen hatte ich noch ein paar Termine, aber eigentlich war genug Luft, um in Ruhe alles zu erledigen.
Stattdessen sitze ich vor dem Computer, wie das Kaninchen im Lichtkegel. Ich räume mein Desktop auf, leere den virtuellen Papierkorb und als dieses unglaublich beruhigende Kruschtel- Geräusch ertönt (das mir signalisiert, dass alles gelöscht ist), denke ich „Jetzt erst mal einen Kaffee!“ Bei dem enervierende Ping, wenn Emails reinkommen, denke ich „Jetzt einen Keks“. Wenn keine Emails kommen, werde ich nervös und checke die Internetverbindung. Dann checke ich facebook und Instagram.
Donnerstagmittag sitze ich mit einem Freund beim Lunch und er fragt interessiert, was das Buch mache. Ich winke ab. Er grinst: „Na, ist der Druck noch nicht groß genug?“ „Ja, genau!“, sage ich und bin ganz glücklich, dass mich jemand versteht. „Dann prokrastinierst du eben noch. Das ist ja ein ganz normaler kreativer Prozess“, sagt er zuversichtlich. „Ach, wirklich?“, frage ich ganz erstaunt. Irgendwie hatte ich das von dieser Warte noch nie betrachtet.
„Weißt du, Lucie, ich bin ja auch der festen Überzeugung, dass Gott die Welt nicht in 7 Tagen erschaffen hat. Der hat erst mal 3 Tage nichts getan und prokrastiniert. Dann hat er sich gedacht: „Ach, ich regele das mal mit dem Hell und Dunkel.“ Und das hat ihn so erschöpft, dass er erst mal Pause gemacht hat und dann am letzten Tag kurz vor der Deadline, da hat er erst richtig Gas gegeben.“
So habe ich das noch nie gesehen. Das ist vielleicht ein bisschen blasphemisch aber eine grandiose neue Perspektive! Seitdem bin ich wesentlich entspannter und kann auch akzeptieren, dass Sam das Lego erst wegräumt, wenn er das Geräusch des Staubsaugers hört. Wir haben ja quasi Gottes Segen… oder so. In diesem Sinne einen guten Wochenstart!
Tags: Leben
4 Comments
Liebe Lucie,
dieser Text hätte auch von mir stammen können. Ich sitze genau so vor dem Schreibtisch und verbummle die Zeit bis zur letzten Minute, selbst wenn ich mir vornehme, endlich mal früher anzufangen. Ich habe mich auch oftmals gefragt und geärgert (wenn die Hektik dann da war), wieso ich das nicht abstellen kann. Dank deiner neuen Perspektive versuche ich nun auch mal, es etwas gelassener zu sehen 😉
Liebe Lisa, sehr gut! Auch immer gut zu wissen, das man nicht alleine ist!
Guten Wochenstart!
Lieben Gruß
Lucie
Liebe Lucie,
vielen Dank für den Artikel. Das Lesen hält mich davon ab, ein Konzept fertigzustellen. Aber da ist die Deadline ja auch erst Donnerstag. Oh!
LG,
Christian
Lieber Christian, das sind ja Lichtjahre! Mach Dir erstmal ’nen Kaffee und häng die Wäsche auf. Vor Mittwoch 21.30 würde ich auf keinen Fall weitermachen. Schönen Tag! Lucie