Wir sind zu Besuch bei Marcs schwedischer Verwandtschaft in Stockholm. Sam ist schon Tage vorher wahnsinnig aufgeregt. Als wir ankommen, stürmen zehn strahlende Menschen auf ihn zu, an deren Gesichter er sich nur dunkel erinnert.
Er versteckt sich hinter meinen Beinen und ist eigentlich nur an dem jungen Welpen seiner Tante Liv interessiert. Alle lassen ab, nur seine Großtante Elsa hält hartnäckig an einer standesgemäßen Begrüßung fest: „Na, komm Sam, du wirst doch wohl deiner Tante Else einen ordentlichen Kuss geben!“
Man muss dazu wissen: Tante Else wird dieses Jahr 80, ist deutschstämmig und war die längste Zeit ihres Lebens Oberschwester. Ihr Spitzname: „La Diva“. Ihren Ruf als knallharte Chefin hatte sie nicht nur im Job. Sie muss so etwas wie die Marlene Dietrich des Krankenhauses von Uppsala gewesen sein. Also, wenn Tante Else was will, dann spurten normalerweise alle.
Sam lässt das alles kalt. Er schaut sie kurz an und entscheidet sich gegen das Küssen und für den Welpen: „Isse so süße puppy, Mama!“
Ich muss schmunzeln, dass Sam „La Diva“ so am langen Arm verhungern lässt, trotzdem versuche ich zu vermitteln: „Sam, magst du Tante Else mal guten Tag sagen?“
Denn so ganz wohl ist mir auch nicht. Warum eigentlich nicht? Ich verstehe, dass er sie nicht küssen will. Ich war auch nicht so scharf darauf, Tante Else zu küssen, aber ich habe mich brav gefügt. Und irgendwie wäre es doch jetzt auch schön, wenn Sam sie wenigstens mal anschaut und ihr die Hand gibt. Ich kann nicht leugnen, dass es mich stolz machen würde, wenn Sam das ganz brave, liebe Kind spielt und ganz brav und lieb der Tante wenigstens „Hallo“ sagt.
Tante Else wird ungehalten: „Sag mal, Sam, jetzt will ich aber einen Kuss!“ und hält ihre Wange hin. Sam schaut mich an und sagt laut genug, dass es alle hören können: „Wille Tante Else keine kiss geben.“ Tante Else schaut mich empört an. „Der ist aber nicht gut erzogen, Lucie“, raunzt sie mich an. Ich hole gerade Luft und will mich rechtfertigen, da springt Marc ein: „Also, ich finde, der ist uns ganz großartig geraten! Der hat denselben Sturkopf wie du.“ Tante Else schiebt murrend ab.
Interessant. Vor allem, was in mir vorgeht. Eigentlich vertrete ich kategorisch die Ansicht, dass mein Kind niemanden küssen MUSS, ob blutsverwandt oder nicht. Ich finde es sogar sehr gesund, dass er so reagiert und seine Grenzen sieht und sie schützt. Ich selbst würde mich das nämlich gar nicht trauen. Ich bin nämlich „so gut erzogen“, dass ich auch Menschen zur Begrüßung umarme, die meinen Fluchtinstinkt akut triggern und in mir alles schreit: Wo ist die nächste Dusche?
Natürlich kann man auch Distanz wahren und trotzdem „Hallo“ sagen, aber eigentlich hat Sam so reagiert, wie es sich für ihn richtig anfühlt. Was ist also eine „gute Erziehung“: wenn ich ihm seinen Instinkt austreibe, damit Tante Else jauchzt wie gut er erzogen ist und ich mir selber auf die Schulter klopfe, was für einen süßen Sohn ich habe? Oder ist eine gute Erziehung nicht vielmehr, dass ich ihn darin bestärke, seine Grenzen zu sehen und zu schützen?
Vielleicht ist aber auch meine innere Haltung viel wichtiger. Nach langem Hadern und Ringen zwischen meiner Gefallsucht und ein plötzlich aufflammenden Trotzwut knie ich mich vor Sam und sage ihm: „Sam, du musst niemanden küssen, den du nicht küssen willst, aber „hallo“ sagen kann man immer!“ Ich glaube, mein Lieblingsdäne Jesper Juul wäre heute vielleicht sogar ein bisschen stolz auf mich. Was meint ihr?
Tags: Erziehung Jesper Juul Traditionen
2 Comments
Sehr schön! Dein Mann hat auch super reagiert und Tante Else sollte nach mehreren Jahrzehnten in Sverige wissen, dass man den Kindern ihre Eigenständigkeit lassen soll. Aber wer weiss, in 50 Jahren werden wir auch Küssen von unseren Enkeln einfordern;)
Liebe Nina,
Völlig richtig. Aber kennst Du das nicht: Man sieht ein süsses Kind und streichelt es einfach über den Kopf, obwohl man es gar nicht richtig kennt… ich denke ganz oft: Verflucht, Lucie, reiss dich mal zusammen…ich mag ja auch nicht, wenn man mir über den Kopf streichelt…